Wut Gefühl abstrakt rot blau - © iStock/rai

Wut und Weisheit: Mensch, ärgere dich!

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Aggressive Impulse haben eine große Zerstörungskraft. Gerade Menschen, die hohe Ansprüche an sich stellen, wollen sie sich oft abgewöhnen. Doch das wäre ein Irrweg. Wie sich Wut und Weisheit verbinden lassen.

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Aggressive Impulse haben eine große Zerstörungskraft. Gerade Menschen, die hohe Ansprüche an sich stellen, wollen sie sich oft abgewöhnen. Doch das wäre ein Irrweg. Wie sich Wut und Weisheit verbinden lassen.

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Offensichtlich hat der kleine Hase Moritz einen schlechten Tag: Vielleicht ist ihm etwas Ärgerliches passiert, oder er hat einfach nur schlecht geschlafen. Jedenfalls grantelt er vor sich hin, und man sollte ihm nicht zu nahe treten – bis seine Freundin Leni kommt und mit ihm gemeinsam ein Wutkissen bastelt. Auf das kann er dann ordentlich draufhauen, bis er sich besser fühlt. Diese Szene aus dem Kinderbuch „Moritz Moppelpo“ ist prinzipiell eine gute Strategie. Sie setzt allerdings an einem Punkt an, an dem die Wut schon sehr mächtig geworden ist. Und welcher Erwachsene nimmt sich das Wutkissen schon mit ins Büro? Selbst bei Kindern ist das Ausagieren nur eine Option von vielen. Es gibt andere Wege, wie man von klein auf einen konstruktiven Umgang mit diesem ungeliebten Gefühl lernen kann.

Die Geschichte vom Hasen verdeutlicht, dass die Pädagogik bei Gefühlen oft einem allzu simplen Strickmuster folgt. Sofern sie überhaupt jemals stattfindet. Wer schlecht darauf vorbereitet ist, mit explosiven Gefühlen wie Wut umzugehen, kann im schlimmsten Fall gefährlich werden. Sogar sehr gefährlich, wie sich anhand zahlreicher Gewalttaten zeigt, nicht zuletzt der wachsenden Zahl von Femiziden. Wut hat in unserer Kultur keinen guten Ruf, denn ihr destruktives Potenzial ist enorm. In der bürgerlichen Welt ist ihr freier Ausdruck verpönt, und der seit 2010 etablierte Begriff des „Wutbürgers“ ist somit ein Paradox. Folgerichtig handelt es sich um eine Person, die mit der bürgerlichen Tradition gebrochen hat und ihren Protestwillen gegen politische Entscheidungen (bzw. „die Politik“ generell) demonstrativ in Szene setzt. Dass es genug Missstände gibt und es gesellschaftlich wirkmächtig ist, sich kräftig zu empören, zeigen die vielfältigen Abwandlungen des Begriffs – von der „Wutoma“ bis zu den „Wutbauern“.

Spirituelles Bypassing

Aus Sicht der Evolution hat jedes Gefühl eine wertvolle Funktion. Aggression in Form von Wut, Ärger und Zorn verteidigt unsere Grenzen und erkämpft, was dringend gebraucht wird. Durch unbändigen Zorn zum Beispiel kann man sich selbst dann noch verteidigen, wenn man bereits verletzt am Boden liegt. Wut kann Mütter und Väter zu Kraftprotzen machen, wenn sie ihre Kinder schützen müssen. Viele Gewaltherrscher wurden durch aufbrandenden "Volkszorn" von ihrem Thron gestoßen. Im Bereich der subtileren Gefühlsregungen kann es sein, dass man erst durch aggressive Impulse die unterschwellige Verletzung einer Grenze bemerkt. Wie aber würde sich die Wut selbst beschreiben? „Ich kann ganz schön heftig sein“, sagt sie im „Abc der Gefühle“, einem emotionalen Leitfaden von Udo und Gabriele Baer (Beltz-Verlag, 2021). „Wenn ich dann in Aktion bin, brauche ich manchmal einige Zeit, um mich wieder zu beruhigen. Ist die Energie erst einmal mobilisiert, muss sie ja irgendwohin (…). So hilfreich ich bin, so schlecht ist mein Ruf. Das liegt daran, dass ich manchmal erblinde.“

Wenn Menschen von Wut wie besessen sind, ist Feuer am Dach: Unschöne Szenen, Hass und Gewalt liegen in der Luft. Das ist wohl auch der Grund, warum gerade Personen, die hohe Ansprüche an sich selbst stellen, ein problematisches Verhältnis zur Wut haben und sich diese am liebsten abgewöhnen würden. Dazu zählen insbesondere jene, die sich selbst als religiös begreifen oder eine Art von „spirituellen Weg“ verfolgen. Sie glauben oft, dass Wut und Zorn die Symptome eines Versagens seien und eine unüberbrückbare Distanz zu ihren hehren Zielen wie Erleuchtung oder bedingungsloser Nächstenliebe schaffen würden. Indem sie ihren Ärger negieren oder verdrängen, gehen sie in eine Falle, die der amerikanische Psychotherapeut Robert Augustus Masters als „spirituelles Bypassing“ bezeichnet: die Inanspruchnahme spiritueller Praktiken oder religiöser Glaubenssätze, um schwierige Gefühle und schmerzhafte seelische Wunden zu umschiffen. Das äußert sich dann in der Dämonisierung von Ärger, exzessiver Nettigkeit, strenger Selbstbewertung, phobischer Vermeidung von Konfrontationen sowie emotionaler Flachheit und Dissoziation.

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