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Absurd? Ein österreichisches Schicksal

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Es gibt Unternehmungen, die entweder ein umfangreicher Personalstab fertigbringt — oder aber ein engagierter einzelner. Die historischtopographische Erfassung des gesamten Wiener Althausbestandes ist ein solches Unternehmen. Es ist seit nunmehr rund eineinhalb Jahrzehnten im Gange, und es ist fast schon absurd zu nennen, daß es weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit geschieht. Absurd deshalb, weil Viennensia, Publikationen zur Geschichte Wiens aus allen denkbaren Blickwinkeln, durchaus auf ein Käuferpublikum rechnen können. Es ist nicht gerade riesig, aber groß genug, um kleine bis mittlere Auflagen einschlägiger Werke aufzunehmen.

Eine der wesentlichen Publikationen zur Geschichte Wiens aber, die nun bis zum vierten Band gediehene „historisch-topographische Darstellung der Vorstädte und Vororte auf Grund der Katastralvenmessung“, erscheint in Auflagen, die schon nicht mehr als solche zu bezeichnen sind, nämlich von jeweils rund 300 Stück. Man muß die unscheinbaren Bände in der Hand gehabt haben, um zu erfassen, daß hier ein echtes, lokalhistorisches Mammutunternehmen im Gange ist — fertiggebracht von einem einzelnen Menschen vorgeschrittenen Alters.

Dipl.-Ing. Robert Messner, Hofrat des Bundesamtes für Eich- und Vermessungswesen in Ruhe, 30 Jahre im Außendienst tätig und daher ein trainierter Fußgeher, bringt allerdings die notwendigen Voraussetzungen für das mit, was er sich vorgenommen hat: Eine Registratur jenes Wiener Hausbestandes, der, soweit es sich nicht um kunsthistorisch besonders bedeutsame Objekte handelt, von der Spitzhacke in besonderem Maße bedroht ist. Das heißt: Aller Häuser, die vor dem als Gründerzeit bekannten Bauboom der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstanden sind. Also die letzten Reste des eigentlichen Alt-Wien.

Die vier von Messner bislang vorgelegten Bände, deren Veröffentlichung im Verlag des Verbandes der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs erfolgte und durch Unterstützungen des Bundesamtes für Eich- und Vermessungswesen, des Kulturamtes der Stadt Wien und des „Notringes der wissenschaftlichen Verbände“ ermöglicht wurde, bestehen aus knappen, aber äußerst lesenswerten Kapiteln, ansonsten aber hauptsächlich aus Verzeichnissen und beiliegenden Plänen. Diese Verzeichnisse und Pläne müssen jeden lokalhistorisch Interessierten faszinieren.

Den Kern nämlich bilden Aufstellungen aller seit dem Vormärz erhalten gebliebenen, zum anderen aller abgebrochenen Bauten. Die Grenze wurde mit dem Jahr 1846 für die Vorstädte, mit dem Jahr 1819 für die Vororte gezogen (unter erste-

rem Begriff ist alles innerhalb der einstigen „Linie“, also die inneren Bezirke, unter letzterem alles jenseits des späteren Gürtels, also die äußeren Bezirke, subsumiert). Die Grenzziehung (1846 bzw. 1819) ist darauf zurückzuführen, daß die als Arbeitsgrundlage herangezogenen, letzten vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts entstandenen Kata-stralvermessungen aus den betreffenden Jahren stammen.

Welche ungeheure lokalhistorische Arbeitsleistung hier vollbracht wird, geht allein aus der Tatsache hervor, daß für die Erarbeitung dieser Pläne und Verzeichnisse jeweils zwei bis drei (!) vollständige Begehungen aller Gebiete, in denen seinerzeit bereits

Bauten bestanden, notwendig waren. Umfangreiche Teile der äußeren Bezirke, die im Vormärz noch ausschließlich Felder und Waldungen waren, kamen zum Glück nicht in Betracht — anders wäre dieses Unternehmen einem einzelnen Menschen auch gar nicht möglich gewesen.

Um so detailreicher und historisch bedeutsamer die Beschreibung der behandelten Stadtteile — sowohl der erhaltenen wie der abgebrochenen Bauten. Die erhaltenen scheinen in den Plänen rot auf, während alles, was abgebrochen wurde, grau eingezeichnet ist. In den Verzeichnissen findet man — bei den erhaltenen Bauten — nicht nur, neben Konskriptionsnummer und heutiger Anschrift, die seinerzeitige „Widmung bzw. Bezeichnung“, sondern vor allem ausführliche Angaben über heutigen Zustand und Bestimmung, teils auf Grund eigenen Augenscheins, teils archivalisch erschlossen. Das bedeutet zum Teil knappe Hinweise, wie „Im Hof hoher Göt-

terbaum“ oder „südwestl. Teil abgebrochen“ oder auch nur „Fassade verändert“, zum Teil aber auch ausführliche historische Angaben, Wiedergaben von Inschriften, Widmungen und so weiter. Ganz offensichtlich versteht sieh dieses Werk nicht nur, und vielleicht nicht einmal primär, als Information für die Zeitgenossen, sondern ebensosehr als Quelle für spätere Arbeiten.

Eines Tages, wenn die Negativbilanz des jetzigen Baubooms gezogen und festgestellt wird, was in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zum Teil nacktem Kommerz geopfert wurde, was an historischer Substanz, aber auch an Lebensqualität verlorenging, wird

man dabei auf die Bestandsaufnahmen Messners zurückgreifen.

Reizvoll für den heute lebenden Wiener ist es, an Hand dieser Bände in die Geschichte seines eigenen Wohnviertels oder der ihm näher bekannten Stadtteile einzudringen. Da und dort kann man selbst ergänzen, was dem Autor entging — zum Beispiel Qualität und Urheberschaft der Jugendstilfassade eines kleinen, sehr viel älteren Gasthauses in der Pfeilgasse im 8. Bezirk. Ein Werk wie dieses kann nicht ganz ohne Lücken sein — selbst in Logarithmentabellen finden sich ja bekanntlich Fehler. (Der Fassadengestalter hieß Otto Wagner!)

Wer ist nun dieser Robert Messner, und was liegt noch vor ihm? Wie so viele „Urwiener“ hat auch er böhmische und schlesische Großeltern, die teils Beamte, teils musisch angehaucht waren. Der Vater: Bürgerschullehrer in Ottakring, Vien-nensia-Sammler, seinerseits Autor eines Buches über „Die innere Stadt Wien“. Er selbst: Offenbar schon mit

neun Jahren einschlägig „programmiert“, wie die Widmung der Großmutter in einem Buch über die Wiener Wahrzeichen dokumentiert: die Heimatkunde, „für welche du dich so sehr interessierst“.

1958 erschien im Bundesverlag Robert Messners erstes Buch, „Wien vor dem Fall der Basteien“. Vier Jahre später begann die Publikation seiner topographischen Serie mit dem (vergriffenen) Band „Die Leopoldstadt im Vormärz“, fortgesetzt 1970 mit „Der Aisergrund im Vormärz“, 1973 mit der „Josefstadt“ und 1975 mit der „Wieden“. Die Titel sind ein wahrscheinlich nicht gerade verkaufsförderndes Understatement, da die Bände jeweils auch die an den

im Titel genannten inneren Bezirk anschließenden Außenbezirke umfassen. Der Band „Die Wieden im Vormärz“ müßte demnach eigentlich „Wieden, Margareten, Favoriten, Meidling, Hietzing und das nördliche Liesing im Vormärz“ heißen.

Wie überhaupt zu erwarten ist, daß eines Tages die Messnersche Arbeit Ausgangspunkt einer anspruchsvollen Neuausgabe, repräsentativ ausgestattet, aber durchaus gewinnversprechend, wird. In Leinen gebunden statt der billigen flexiblen Bände, mit Kartenfach, vor allem aber mit erweiterten Textteilen und illustriert. Denn die „Topographia Messneri“ enthält zwar kein einziges Photo, aber unter anderem jeweils einen umfangreichen Bildnachweis, welches Photo von welchem Objekt in welchem Buch oder Archiv zu finden ist.

Unendliche Arbeit liegt noch vor dem Alleingänger, der seit 1971 im Ruhestand ist. Noch heuer soll das Manuskript des Bandes über den — fertig begangenen — dritten Bezirk

fertiggestellt werden, um Ende 1977 zu erscheinen. Der Band über Mariahilf wird zwei weitere Jahre Arbeit (einschließlich der jetzt beginnenden Fußmärsche) erfordern. Für das schwierigste Stück des Ganzen, den Band Innere Stadt, veranschlagt Messner vier Jahre Arbeit, „wenn es mir vergönnt ist“.

Die Arbeit an jedem Band beginnt mit der Suche nach dem Kartenmaterial im Katastralmappenarchiv des Bundesamtes für Eich- und Vermessungswesen, im Kriegsarchiv, im Archiv der Stadt Wien und in den Beständen des Schottenstiftes. Es folgt die Herstellung der Unterlagen für die Feldarbeit in Form tuschegezeichneter A-4-Pausen mit Grundrissen und Baulinien. Eine Begehung dauert jeweils vier Monate — von Mai bis Oktober ist Messner in den Straßen Wiens unterwegs, einst täglich fünf bis sechs Stunden. Heute: „Vier Stunden geht es schon noch.“ Sämtliche vorgefundenen Inschrif-

ten werden abgeschrieben, die vormärzlichen Häuser, soweit sie noch stehen, innen und außen besichtigt. Immer häufiger stößt er auf Schwierigkeiten, in verschlossene Häuser einzudringen.

Ein Mammutunternehmen im Schatten. Eine Arbeit, zu groß für einen einzelnen — es sei denn dieser einzelne ältere Herr, der nichts anderes im Kopf hat und den die Liebe zur Sache, heute würde man sagen „die Motivation“, in Gang hält. Zwei Verlage haben die Publikation seines Werkes abgelehnt — wahrscheinlich erschraken sie vor dem Anspruch eines solchen Unternehmens. Man muß dem Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs dafür danken, daß er die Herausgabe ermöglicht. Ihren ganzen, unermeßlichen Wert wird man erst später entdecken. Viel später vielleicht. Ein österreichisches Schicksal.

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