7036795-1989_51_26.jpg
Digital In Arbeit

Begegnung mit dem schönen Juraj

Werbung
Werbung
Werbung

Zwanzig Jahre lang hatte sie sich nicht gemeldet, nun aber schrieb sie: Die Söhne wären erwachsen geworden, Lastkraftwagenfahrer der eine, Lehrer der andere, der Ehemann - Juraj, Du weißt doch -hätte sie vor neunzehn Jahren verlassen, ihr hätte man nun höheren Orts gestattet, in Frühpension zu gehen - die Hände wollen nichts mehr greifen -, und so lebte sie ruhig dahin, eine geschiedene Frau, für Söhne und Enkelkinder, im

Haushalt gäbe es immer genügend zu tun.

Dem kurzen Bericht folgte die Einladung: Ich möge sie doch demnächst besuchen, sie wäre immerhin meine Cousine und die Familie sei klein geworden, unsere Mütter wären dahingegangen, auch unsere Väter gestorben, die Gesichter auf den Familienfotos - sie bewahrte sie in einer Schachtel - wären ihr zum Teil unbekannt, vielleicht könnte ich das eine oder andere erkennen.

Ich fuhr dann tatsächlich. Der Oktober des Jahres 1989 war kühl. Das Dorf, in dem meine Cousine lebte, lag etwa hundert Kilometer östlich von Preßburg, in der Slowakei, nahe der Donau. Das Land befand sich in jenem erregten, gespannten, freudig erwartungsvollen und zugleich besorgten Zustand, der den großen Volksbewegungen eines redlichen geistigen Aufstands vorangeht; aufgrund der Erfahrungen des Sommers 1956 in Ungarn war mir die Atmosphäre vertraut. Freunde, slowakische Autoren in Preßburg, waren dabei, die zu erkämpfenden Freiheitsräume in Gedanken genau zu vermessen. Wir unterhielten uns kurz, ich wollte ja weiter ins Dorf G. an der Donau, zur Cousine.

Die Frau, die im Fenster erschien, war meine längst verstorbene Tante, und auch die Stimme, die den Willkommensgruß in den Garten hinausrief, ertönte wie in der Tiefe der Zeiten - Kindheit, dreißiger Jahre, Sommerfrische in der Slowakei -, doch verflog der Zauber in den nächsten Minuten; die Cousine trug wohl die Gesichtszüge ihrer Mutter, hatte aber ihre eigene leidvolle Lebensgeschichte, in die Haut eingekerbt, im Tonfall der Sprache verbittert, nachdenklich und dann auch freudig vibrierend.

Ein üppiges Mittagessen folgte. Die Versorgungslage, so erfuhr ich, wäre zwar nicht befriedigend, aber auch nicht bedrückend; vieles könnte aus dem eigenen Garten, aus dem Treibhaus des Nachbarn beschafft, manches - zum Beispiel die würzige Hartwurst - selbst hergestellt werden.

Unter den Fotografien in der Schachtel befanden sich Aufnahmen aus alten Zeiten. Längst Verstorbene blickten uns lächelnd, zerstreut oder verdrossen in die Augen. Bilder aus den letzten Jahrzehnten zeigten die Söhne im Säuglingsalter, als kleine Buben, als Halbwüchsige, endlich als junge Männer mit Frauen und Kindern. Der frühere Ehemann, Vater der beiden Söhne - Juraj, Du weißt doch - war ein schlanker Mensch mit düsterem Gesichtsausdruck und gepflegter Frisur.

Er wäre, so berichtete die Cousine, ursprünglich Lehrer gewesen, hätte aber einen schwachen Charaktergehabt und an Gefühlskälte, übermäßigem Ehrgeiz und Alkoholismus gelitten, was ein gedeihliches eheliches Zusammenleben auf die Dauer zwar unmöglich gemacht, den gesellschaftlichen Aufstieg Jurajs aber gefördert hätte. Ja, er hätte mit der Hilfe der Partei Karriere gemacht, gegenwärtig leitete er sogar an einer Pädagogischen Akademie den Lehrstuhl für Atheismus.

Ich erfuhr, daß Atheismus ein Lehrfach war wie j edes andere auch. Die Aufgabe bestand darin, Religionsgeschichte mit umgekehrten Vorzeichen, als eine ununterbrochene Folge von Irrtümern, Lügen und geistigen Verirrungen darzustellen und Gottes Nicht-Existenz mit den geeigneten Mitteln der Wissenschaft zu beweisen.

Wir nahmen andere Fotografien zur Hand, entdeckten Onkeln und Tanten, die wir längst vergessen,

Freunde der Großeltern, die wir wohl dem Namen nach gekannt und dann fremde, altertümlich gekleidete junge Paare, die wir noch niemals gesehen hatten. Die Namen auf den Kehrseiten dieser Fotografien waren allerdings vertraut: wir hielten die Verlobungsbilder der Urgroßeltern in den Händen.

Im Vorzimmer klingelte das Telefon; die Cousine stellte die Schnapsflasche und die Gläschen auf den Tisch; Juraj hatte sein Kommen angekündigt.

Er nickte nachdenklich mit dem Kopf, als hätte er das alles so erwartet: den Gast im Lehnstuhl, die geschiedene Frau halb abweisend und halb erschrocken in der offenen Tür, Flasche und Gläser auf dem Tisch.

Mit lautlosen Schritten näherte er sich einem leeren Platz, setzte sich seufzend, verschränkte die langen Finger ineinander und ließ sie knarren, dann sagte er plötzlich, alles sei halb so schlimm. Seine Stimme klang melodiös. In seinem von, Alkohol zerstörten Gesicht dämmerte im Zwielicht des Nachmittags das Antlitz eines gut aussehenden jungen Mannes.

Natürlich kam Juraj nach einer Viertelstunde auf sein Lehrfach zu sprechen. Wie die Dinge im Augenblick lägen, meinte er, würde man den Atheismus-Unterricht in der Slowakei in nächster Zeit überdenken, vielleicht sogar einstellen. Zugleich wird in manchen Kreisen, fuhr er fort, sicherlich erwogen, den Religionsunterricht in den Schulen wenigstens als Wahlfach wieder einzuführen. Da es an geeigneten Lehrkräften mangelte, könnte der bisherige Atheismus-Lehrstuhl den Religionsunterricht übernehmen. Oder vielleicht nicht? Prost! Juraj heftete den fragenden Blick auf das Gesicht meiner Cousine.

Sie antwortete nicht.

Er sei, sagte Juraj, ein schwacher Mensch, er sei immer schon ein schwacher Mensch gewesen. Außerdem, fügte er hinzu, lebten wir in einer ausgesprochen windigen Gegend. In Dänemark wäre es, zum Beispiel, sehr einfach, ein ehrlicher und rechtschaffener Mann zu bleiben. Aber in der Slowakei?!

Eine Stunde später entfernte er sich in jener selbstsicheren, das Gleichgewicht fast schwebend aufrecht erhaltenden, das Rückgrat stolz emporgerichteten Körperhaltung, die sich bei ganz bestimmten nachdenklichen Alkoholikern als Zeichen der Halbtrunkenheit einstellt.

Auch ich machte mich auf den Weg. Meine Cousine ließ es sich nicht nehmen, Gesottenes und Gepökeltes, Eingekochtes und Luftgetrocknetes, verschiedene leckere Produkte ihres Haushalts, sachgerecht einzupacken und mir auf die Reise mitzugeben. Vor Mitternacht war ich wieder in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung