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Computermusik an der Themse

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Merkwürdig, wie für die Empfänglichkeit für Kreationen zeitgenössischer Musik der Genius loci eine Rolle spielt! Das letztjährige Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) fand in Basel statt. Dort, in der gemütlichen Stadt am Rheinknie, war man sozusagen „unter sich“; Kontakte, Fachgespräche mit Musikern, Komponisten, Kritikerkollegen waren möglich. Neue Musik beherrschte für eine Woche lang den Ort. Ganz anders beim diesjährigen Festival der IGNM, das heuer in London stattfand.

In der heute elf Millionen zählenden Riesenstadt kam man sich, kam sich die moderne Musik wie auf verlorenem Posten vor. Die persönlichen Kontakte fielen aus. Die Entfernungen sind zu groß, von Konzertsaal zu Konzertsaal hatte man, je nachdem, wo man wohnte, stundenlange Reisen mit der „Tube“, mit der Untergrundbahn, zurückzulegen, sich in dem Gewirr der Straßen, des ungeheuerlichen Verkehrsstroms zurechtzufinden, ganz abgesehen davon, daß man versäumt hatte, ein Pressezentrum einzurichten, in dem man sich hätte Informationen holen können. Kurzum, die Organisation war schlecht und lässig — sie konnte vielleicht nicht besser sein, in London ist ein internationales Musikfest nur ein winziger Akzent, gleichzeitig mit dem Festival der IGNM fanden in London noch fünf oder sechs andere Kongresse internationalen Anstrichs statt. Klein im Verhältnis zur Größe der Stadt war auch das Häuflein der Konzertbesucher. Hier war man eben doch wieder „unter sich“, Musiker, Kritiker, Verleger, Agenten, ein paar Musikstudenten — „Publikum“ hat die Neue Musik auch in London nicht.

Rein quantitativ wurde viel, ja sehr viel geboten: In elf Konzerten 46 Kompositionen aus 23 Nationen. Vertreten waren: England, Holland, Spanien, Japan, Deutschland, Frankreich, Dänemark, Griechenland, Österreich, Ungarn, Israel, USA, Italien, die Schweiz, Polen, Brasilien, Jugoslawien, Australien, die Tschechoslowakei, UdSSR, Schweden, Kanada und Finnland Dem Kenner der Materie war von vornherein klar, daß sich hier ein qualitatives Gefälle ergeben müsse, manche überseeische Komponisten halten noch bei Schönberg, Bartök oder Webern, andere liegen weiter nach vorne, bilden die Avantgarde.

Charakteristisch für rdąs Ixmdpn, Festival der IGNM wafeh: Öle’geringe Zahl der Uraufführungen, nur vier von 46 Werken — man hielt sich an anderswo schon Erprobtes, das freilich für England Erstaufführungen waren. Zum zweiten: Musik, die mit dem Computer arbeitet, und zum dritten etwas, was man „literarische Musik“ nennen müßte, das heißt die Inspiration, das Anklammem an Texte, an Dichtungen irgendwelcher Art.

Die erste Uraufführung galt dem in England sehr beliebten Harrison Birtwistle mit seiner „Imaginären Landschaft“. Das Zwanzigminutenstück in der aparten Besetzung für Blechbläser, Kontrabässe und diverses Schlagzeug kommt auch aus dem Computer. Birtwistle hat ihn mit den Informationen des „Wo“ und des „Was“ seiner Kompositionsidee gefüttert, der Computer hat dann den Plan für die Instrumentierung und die Dialektik von Ton und Pausen entwickelt. Birtwistle sieht in der Arbeit mit dem Computer ein irrationales Element, im Gegensatz zu den rationalen Elementen der Kompositionsidee; allerdings war der Komponist mit dem „print-out“, mit dem Ergebnis, das der Computer lieferte, nicht ganz einverstanden, er hat es nachträglich manipuliert. Das klingende Ergebnis ist eine Musik kraftvoller Struktur, bald rauh und stürmisch, bald zart und pastoral, Tongemälde einer imaginären Klanglandschaft.

Im selben Konzert des BBC-Or- chesters unter der Leitung von Pierre Boulez war neben Werken von Belo Bartök (2. Klavierkonzert mit dem hervorragenden Pianisten Claude Helffer) und Arnold Schönbergs „Orchestervariationen“, op. 31, ein neues Werk des Basler Oboers Heinz Holligar zu hören: „Siebengesang“ für Solooboe und Orchester. Holliger erwies sich wiederum als unvergleichlicher Virtuose auf seinem Instrument; für den Mittelteil des Werkes hatte er ein Verstärkermikrophon hineinmontiert, so daß die Oboe zu ungeheurer Stärke anschwoll und wie ein Alphorn wirkte — außerdem konnte man den Oboer stellenweise auch als zweiten Dirigenten neben Boulez bewundern.

Als Abschluß des faszinierenden Werkes hörte man, gesungen von einem Frauenchor, Verse aus Trakls „Siebengesang des Todes“, die den Sinn des ganzen Tonwerks deuteten: „Windessitille der Seele. Auf schwärzlichem Kahn fuhr jener schimmernde Ströme hinab, purpurner Sterne voll…“ Holliger sagt von sich selbst, er könne nur seine eigene Verunsicherung in Musik umsetzen. ♦

Mit dem Computer arbeitet auch der Österreicher Irmfried Radauer. Sein Stück für Kammerorchester heißt „Tetraeder“, weil alle darin vorkommenden musikalischen Ereignisse aus einer Zahlenmatrix von zwölf mal zwölf Zahlen zwischen eins und zwölf,“^Ife’ sich ‘durch ‘ die Drehung eines Tetraeders ergeben, auf konstruktivem Wege abgeleitet sind. Im Schlußteil wird der musikalische Ablauf von einem Computerprogramm errechnet, die Zahlenmatrix wird durch automatisch ausgeführte arithmetische Operationen in Musik abgebildet. Was aus dem Computer elektronisch durch zwei Lautsprecher kommt, wirkt als unheimlicher Hintergrund, dröhnt unmenschlich, außermenchlich. Die zweite Uraufführung stammte von dem Australier Richard Meale: „Incredible Floridas“, als Huldigung an den französischen Dichter Rimbaud gedacht. Die Musik für Kammerorchester sucht die Atmosphäre von Gedichten, wie „Le bateau ivre“ oder „Une Saison en enfer“, zu treffen, Debussy-Klänge sind zu vernehmen, der Primgeiger hat Teile der Verse zu sprechen — dem Zuhörer war es jedoch unmöglich, die Brücke zwischen Musik und Dichtung zu finden.

Anleihen an die Dichtung machte im selben Konzert auch der Engländer Peter Maxwell Davies mit einer Vertonung eines Prosagedichts von Trakl für Bläser, Streicher und riesige Kombinate von Schlagzeug; eine Sängerin im Nonnengewand, weißgeschminktem Gesicht und feuerroter Perücke sang mimisch hin und her wandelnd den Text in weitverzweigten Melismen und spätmittelalterlichen Mensural-Kanons — trotz eines ungeheuren Aufwands an musikalischen Mitteln kommt das Werk eigentlich über Schönbergs ,.Pierrot lunaire“ nicht hinaus.

Gewagte und mutige Schritte in Richtung auf ein neues Musiktheater unternahm Alexander Goehr, 1932 in Berlin geboren, heute Engländer. Von ihm war ein Triptychon zu hören und zu sehen für Orchester, vier Sänger und drei Mimen. Anfang und Schluß bilden melodramatische Szenen nach althebräischen Texten, „Naboths Weingarten“ und eine surrealistische „Sonate über Jerusalem“, beide sehr eindrucksvoll, ja packend. Leider hatte der Komponist für den Mittelteil den unglücklichen Einfall, Platons „Höhlengleichnis“ aus dem 7. Buch der „Republik“ szenisch darzustellen und unter Musik zu setzen. Versuch eines modernisierten und manipulierten Platon, der im Schwulst hohlen Pathos unerträglich, ja lächerlich wirkte.

Pflücken wir aus der Überfülle des Gebotenen und unter Weglassung von viel Beiläufigem noch einiges heraus, was buchenswert erscheint. Etwa die „Abbreviaturen für Streicher“ des Deutschen Jürg Bauer, heute Direktor des Robert-Schu- mann-Konservatoriums in Düsseldorf, markante, expressive, muntermusikalische Spielmusik mit einem aggressiven Finalsatz in Form eines Perpetuum mobile. Mit viel Alea- torik und klanglichem Temperament hat der Japaner Joji Yuasa seine „Projektionen für Streichquartett“ konzipiert, auf der Suche nach neuen Klangwelten das Reißerische oder Groteske streifend, wenn etwa die Streicher den Bogen gegen die schiefwinkelig verzogenen Seiten zu führen haben. Der Däne Per Norgaard erzeugt in seinem „Reise in die goldene Filmleinwand“ genannten Orchesterstück eine seltsam flimmernde, irisierende Impression, die sich kaum von der Stelle bewegt. Der Grieche Jani Christou sucht in seinem „Praxis für 12“ betitelten Orchester- furioso den kultisch-rituellen Charakter, die „Musik in Aktion“; der Dirigent streicht auf dem Podium umher und hat sich auch ,4m“ Flügel — nicht „am“ — zu betätigen, die Streicher sollen das Klavier feierlich umwandeln und dabei die Noten aus- rufen, was bed der Aufführung freilich mißglückte.

Ein Konzert in der St.-Johns- Kirche war ausschließlich britischen Komponisten Vorbehalten, angefangen von dem jüngsten Teilnehmer des Festivals, dėm 28jährigen Bill Hopkins, bis zu der 65jährigen Komponisten Elisabeth Lutyens, die sogar mit einer Uraufführung aufwartete, einem Werk für Sopran, Tenor, einen Sprecher und Orchester nach Texten von Sophokles, R. L. Stevenson, Shelley und Rabelais, gutgemeinte Programm-Musik, die jedoch viel höflichen Beifall fand.

Das wirklich Überragende bei dem Londoner Festival war nicht neu: Das 1970 in Wien uraufgeführte Kammerkonzert von György Ligeti erschien hier in seiner endgültigen Gestalt, ergänzt um einen vierten Satz, der in einem gespenstischen Klanggeflüster faszinierend verhaucht, klar gefügtes, auskristallisiertes Musikspektrum von Meisterhand. Aber auch das Klaviertrio „Presence“ von Bernd Alois Zimmermann erschien in dieser Umgebung als glücklich inspirierte Musik. Das Abschlußkonzert brachte dann noch einige Überraschungen. Der Finne Aulis Sallinen hatte ein Werk für 32 vierfach besetzte Bläser, Schlagzeug, Harfe und Celesta geliefert, polyphone, rein tonale, choralartige Musik, die denn auch prompt ausgebuht wurde. Schließlich machte man hier noch einmal Bekanntschaft mit Musik aus der Maschine: Der Grieche Iannis Xenakis hat sein Orchesterstück „Atreus“ für den Computer programmiert — offenbar für einen Computer, der in Glissandi verliebt war.

Man kann die Rückschau auf eine ganze Woche zeitgenössischer Musik nicht abschließen, ohne der Wiedergabe und Interpretation der vielen Werke zu gedenken, die In London in den denkbar besten Händen war. Neben dem BBC-Orchester war es vor allem das London Sinfonietta Orchestra unter der Leitung von Davis Atherton, das schlechtweg Überragendes geleistet hat, Schwierigstes und Ausgefallendstes souverän beherrschte, lauter ganz junge Musiker, die heutige Musik nicht nur mit höchster Präzision, sondern mit spürbarer innerer Überzeugung darstellten.

Das nächste IGDM-Fest 1972 wird in Graz stattfinden.

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