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Das Judentum im Schulunterricht

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Im AHS-Unterricht ist von systematischer Aufklärung wenig die Rede. Es ist interessant, was ein jüdischer Mitbürger und Sozialdemokrat dazu zu sagen hat.

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Im AHS-Unterricht ist von systematischer Aufklärung wenig die Rede. Es ist interessant, was ein jüdischer Mitbürger und Sozialdemokrat dazu zu sagen hat.

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Im Unterricht an höheren Schulen werden Judentum, Juden und „Judenfrage" kaum oder überhaupt nicht erwähnt. Dieser Mangel sollte behoben werden durch eine soziologische Analyse der Thematik in historischer Perspektive unter Berücksichtigung der relevanten kulturellen, politi-

sehen und wirtschaftlichen Aspekte mit Hinweisen auf relevante sozialpsychologische Faktoren.

Der Ausgangspunkt für eine Behandlung dieses Themas sollte auf der historischen Bedeutung des Judentums in der Geschichte der Religionen liegen, aufgrund der spirituellen Bedeutung des Judentums in der Entwicklung der Religionen des Mittelmeerraumes und des Abendlandes. Hierher gehört die Bedeutung des Judentums für das Christentum und den Islam.

In diesem Zusammenhang wäre auch die Bibel in ihrer Bedeutung für die sprachliche Entwicklung des Abendlandes zu erwähnen, da alle europäischen Sprachen den Ursprung ihrer formellen Sprachwerdung in Bibelübersetzungen haben.

Den Kern der jüdischen Geschichte der Neuzeit bildet der Prozeß der Emanzipation, der mit Aufklärung und Industrialisierung einsetzt. Dieser Emanzipationsprozeß ist aufgegliedert in Entwicklungen in der kulturellen, d. h. sprachlichen und religiösen Assimilation einerseits und der gesellschaftlichen Integration in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht anderseits. Diese Entwicklungen finden natürlich im Rahmen brisanter persönlicher, gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Spannungen statt.

Diese Spannungsverhältnisse

entstehen in dem Antagonismus zwischen gesellschaftlicher Integration und kultureller Assimilation einerseits und den Bestrebungen, kulturelle Identität zu bewahren. Diese Spannungen spielen eine Schlüsselrolle in der Problematik, die als „Judenfrage" bezeichnet wird.

Kultureller, d. h. sprachlicher und religiöser Pluralismus führt immer und überall zu Spannungen mit Tendenzen zur Herstellung von kultureller Homogenität. Diese Spannungen nehmen die unterschiedlichsten Formen an und resultieren in einer Vielzahl möglicher Entwicklungen kultureller, politischer und wirtschaftlicher Natur.

Der Antisemitismus erscheint als eine der zahlreichen Reaktionsweisen auf kulturellen Pluralismus in der industriellen Gesellschaft. Der Antisemitismus hat mit andern Ausdrucksformen von Abneigung oder Feindschaft gegen Andersartige manches gemeinsam. Er ist jedoch genau wie auch das Judentum sui generis.

Der neuzeitliche Antisemitis-

mus ist zu unterscheiden vom Antagonismus gegen Juden in vorindustriellen Gesellschaften. Beim Studium des Antisemitismus wie beim Studium anderer gesellschaftlicher Phänomene ist eine sinnvolle Kategorisierung förderlich. Hier scheint folgende dreigliederige Kategorisierung zielführend:

• Die weitestverbreitete Art des Antisemitismus könnte man als „volkstümlich" oder „populistisch" bezeichnen. Diese richtet sich vor allem gegen Juden, die in der Wirtschaft, der Politik, oder im Bereich von Kultur und Geistesleben erfolgreich sind.

Hierher gehört der antikapitalistische Antisemitismus, der von August Bebel als „der Sozialismus der Dummen" bezeichnet wurde. Hierher gehört auch der Antisemitismus, der Juden in kontro-versiellen Stellungnahmen in der Politik und im kulturellen Bereich konfrontiert.

Bemerkenswert ist, daß der „volkstümliche" Antisemitismus meistens ziemlich selektiv ist und

sich häufig nicht gegen Juden pauschal wendet. Hierher gehören als Musterbeispiele der Antisemitismus des früheren Wiener Bürgermeisters Karl Lueger sowie der in den dreißiger Jahren unter katholisch-irischen Amerikanern verbreitete Antisemitismus von Father Coughlin.

• Der nationalsozialistische Rassenantisemitismus ist sorgfältig vom „volkstümlichen" Antisemitismus zu unterscheiden, denn er ist eindeutig kriminell und pathologisch. Es stimmt natürlich, daß zwischen den beiden Kategorien des Antisemitismus unzählige Ubergangsstufen bestehen, die keine klare Trennungslinie zulassen. Dazu ist jedoch zu bemerken, daß die zahllosen Schattierungen von Grau zwischen Weiß und Schwarz gleichfalls keine klare Trennungslinie zulassen, was aber den Unterschied zwischen Schwarz und Weiß nicht negiert.

• Als dritte Kategorie des Antisemitismus erscheint die bisweilen bis zum Selbsthaß gesteigerte Selbstverleugnung von Juden, die sich nicht nur vom Judentum abwenden, sondern gegen das Judentum Stellung nehmen. Eine solche Stellungnahme erscheint des öfteren bei Leuten, die dem Judentum entfremdet sind, aber mit dem Problem ihrer Assimilation und ihrer kulturellen Identität seelisch nicht fertig werden.

Dieses Phänomen jüdischer Selbstverleugnung oder gar des Selbsthasses ist sowohl von allgemeinen gesellschafts- und verhaltenswissenschaftlichem Interesse als auch bedeutungsvoll als Element des Phänomens Antisemitismus. Es gibt kaum einen Zweifel, daß jüdische Selbstverleugnung und noch mehr jüdischer Selbsthaß zur Stärkung der beiden anderen Varianten des Antisemitismus wesentlich beitragen.

Der Verfasser wirkt am Institut für Soziologie der Fakultät der Grund- und Integra-tivwissenschaften der Universität Wien.

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