Das Gespenst geht weiter um

Werbung
Werbung
Werbung

Am 9. November jährt sich die "Reichskristallnacht", das größte Pogrom in Mitteleuropa, zum 66. Mal. Antisemitismus - der Dämon Europas - ist mitnichten verschwunden: Die "Protokolle der Weisen von Zion" erleben 100 Jahre nach ihrem Auftauchen neue Verbreitung, aber auch die Aufarbeitung der Folgen des Antisemitismus hierzulande deckt neue Wunden auf. Das Martyrium des Judentums ist mit der Geistesgeschichte und der politischen Historie Europas untrennbar verbunden. Erinnern an den 9. November 1938 (Veranstaltungen: S. 24) bleibt so brennend aktuell. Redaktion: Otto Friedrich Der Kampf gegen den Antisemitismus kann von Europs Agenda keineswegs gestrichen werden. Nur das Gewand des Ressentiments ist anders.

Wien, Nacht vom 21. auf den 22. September 2004: Die Theodor-Herzl-Stiege in der Innenstadt wird mit der Parole "Stop Zionism Victory for Intifada!" beschmiert; die an der Stiege angebrachte Gedenktafel aus Sandstein ist völlig zertrümmert.

Brumath, Elsass, 30. Oktober 2004: Unbekannte verwüsten 92 Gräber auf dem jüdischen Friedhof: In den ersten neun Monaten des Jahres werden in Frankreich 344 antisemitische Gewalttaten registriert.

Frankfurt/Main, Oktober 2004: Auf der diesjährigen Buchmesse - Schwerpunkt: Arabische Welt - sei ein Großteil der arabischen Bücher zur politischen Lage in Nahost antisemitischen Inhalts gewesen; die Messeleitung habe dagegen nichts unternommen. Solche Vorwürfe erhebt Jochen Müller, Leiter des Berliner Büros des Middle East Media Research Institute; außerdem sei der Eröffnungsredner bei der Buchmesse, der Autor Al-Salmawi, ein offener Leugner des Holocausts.

Berlin, 2004: Der Journalist Philipp Gessler berichtet in einem Buch über den Alltags-Antisemitismus in Berlin: Mancherorts - "in Kreuzberg und in Neukölln, aber auch in einigen Bezirken Ost-Berlins, etwa in Marzahn" - sei es nicht ratsam, ein Davidsternkettchen zu tragen: "in Kreuzberg und Neukölln aus Angst vor ;Stress' mit Linken und Muslimen, in Marzahn aus Furcht vor rechten Schlägern."

Meldungen und Analysen wie die hier genannten sind in Europa nichts "Außergewöhnliches" - wieder ist von grassierendem Antisemitismus die Rede, wobei das uralte Ressentiment sich in anderem Gewand und mit seltsamen Allianzen zeigt: Da sind die Rechtsradikalen von heute, deren Nachwuchs sich etwa aus sozial marginalisierten Gesellschaften der Reformstaaten oder auch in Ostdeutschland rekrutiert. "Rechter" Antisemitismus hat Geschwister, die sich vor allem aus dem Nahostkonflikt speisen: Der "linke", gegen die Politik Israels gerichtete "Antizionismus" entpuppt sich nach Meinung vieler Experten als nicht anders als der alte Dämon, auch Weltverschwörungstheorien wie sie seit den "Protokollen der Weisen von Zion" (Seite 22 dieser Furche) umgehen, feiern bei Teilen der Globalisierungskritiker fröhliche Urständ, wobei der in Europa verbreitete Antiamerikanismus oft als verschleierter Code für eine "jüdische" Weltherrschaft dient.

Am dramatischsten entwickelt sich zur Zeit der "muslimische" Antisemitismus: In den arabischen Ländern gehört Propaganda mit übelsten antisemitischen Versatzstücken zum Krieg der Worte gegen Israel. Flächendeckend sind in der - oft regierungsamtlichen - Presse arabischer Länder Karikaturen verbreitet, deren Stereotype nahtlos ans NS-Hetzblatt Der Stürmer anschließen, auch die Neuauflage von Ritualmordlegenden sind dabei gang und gäbe. Über die muslimischen Migranten kommt solches Gedankengut nach Europa zurück.

"Neuer" Antisemitismus?

Gleich vier wichtige Neuerscheinungen beschäftigen sich mit diesem "neuen Antisemitismus". Jedes der Bücher geht auch auf die dieses Jahr veröffentlichte Studie der Wiener EU-Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit über Antisemitismus in Europa ein: Um diese Studie hatte es eine scharfe Kontroverse gegeben, weil deren Ergebnisse zunächst unter Verschluss geblieben waren. Kritiker erhoben den Vorwurf, sie wäre deswegen zurückgehalten worden, um das "politisch inkorrekte", nicht genehme Ergebnis, dass nämlich der muslimische Antisemitismus in Europa eine immer größere Gefahr darstelle, zu verschleiern. Im März 2004 wurde die überarbeitete Studie dem Europaparlament vorgelegt, die alarmierenden Befunde in Bezug auf den aggressiven Antisemitismus im islamischen Kontext sollten europaweit zu denken geben.

Philipp Gessler, Redakteur bei der Berliner taz, gelingt im Taschenbuch "Der neue Antisemitismus" eine auf den Punkt gebrachte Darstellung: Sein Ausgangspunkt ist die Situation in Deutschland, die in vielen Grundlinien auch auf Österreich zutrifft - ein schneller Überblick zum Thema.

Das aktuelle und exzellent kompilierte "Handbuch" aus österreichischem Blickwinkel ist Hans Rauschers "Israel, Europa und der neue Antisemitismus", in dem der Standard-Autor auch dem Hintergrund viel Raum widmet. Intensiv geht Rauscher der Frage legitimer Kritik der konkreten Politik Israels nach: Rauscher konstatiert hier eine gefährliche, einseitig israelkritische Schieflage in der öffentlichenBeurteilung. Rauscher dennoch: "Die Europäer müssen aber auch sagen dürfen, was falsch und bedenklich erscheint an der israelischen Politik - solange das auf dem Fundament einer grundsätzlichen Solidarität geschieht. Sie müssen andererseits ihren palästinensischen oder arabischen Gesprächspartnern klarmachen, dass wir keine Zweideutigkeiten aufkommen lassen, die vor dem Hintergrund unserer Geschichte ein großes Misstrauen auflösen würden' (Joschka Fischer). In Europa ist dem palästinensischen Selbstmordterror das Verständnis zu entziehen, er darf nicht als Gegenterror' entschuldigt werden. Und schließlich soll uns unsere Geschichte zur Demut raten..."

Ebenso lesenwert ist das vom renommierten Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz herausgebrachte Buch "Was ist Antisemitismus", in dem unaufgeregt und systematisch die aktuellen Phänomene des alten Themas beleuchtet werden. Dieser Tage ist auch ein Sammelband über die "globale Debatte" erschienen, in dem führende Intellektuelle diesseits und jenseits des Atlantiks (Daniel Goldhagen, Ulrich Beck, Alain Finkielkraut, Robert Wistrich...) kontrovers diskutieren, ob es diesen "neuen" Antisemitismus gibt und inwieweit solcher sich in linkem Antizionismus oder der islamischen Welt fest etabliert hat. Nicht erst mit diesem, bei Suhrkamp erschienenen Band ist klar, dass es siPch hier um eine der notwendigsten geistigen Auseinandersetzungen handelt, denen sich Europa zur Zeit stellen muss.

ISRAEL, EUROPA UND DER NEUE ANTISEMITISMUS. Ein aktuelles Handbuch.

Von Hans Rauscher. Molden Verlag, Wien 2004. 248 Seiten, geb., e 22,80

DER NEUE ANTISEMITISMUS. Hinter den Kulissen der Normalität. Von Philipp Gessler. Verlag Herder, Freiburg 2004. 160 Seiten, TB., e 10,20

WAS IST ANTISEMITISMUS? Von Wolfgang Benz. Verlag C.H.Beck, München 2004. 272 Seiten, geb., e 20,50

NEUER ANTISEMITISMUS? Eine globale Debatte. Hg. Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider, Edition Suhrkamp, Frankfurt/M 2004. 336 Seiten, TB., e 12,90

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung