6918058-1981_34_05.jpg
Digital In Arbeit

Der modische .mündige Bürger4

19451960198020002020

Das sind A uszüge aus einer Rede, die der schweizerische Kantonsrat Paul Stadlin vor dem Parteitag der Freisinnigen Partei des Kantons Zug gehalten hat. Man bedenke einmal, ob in der meist demagogisch auf geheizten A tmosphäre des Parteitags irgend einer österreichischen Partei ein solches Referat gehalten werden könnte . . .

19451960198020002020

Das sind A uszüge aus einer Rede, die der schweizerische Kantonsrat Paul Stadlin vor dem Parteitag der Freisinnigen Partei des Kantons Zug gehalten hat. Man bedenke einmal, ob in der meist demagogisch auf geheizten A tmosphäre des Parteitags irgend einer österreichischen Partei ein solches Referat gehalten werden könnte . . .

Werbung
Werbung
Werbung

In der Politik sollte in erster Linie gedacht werden, und so man das ge­tan hat, kann man versuchen, etwas auszusprechen, nicht umgekehrt. Da­bei bitte ich zu beachten, daß denken nicht nur heißt, neue Gedanken zu entwicklen. Es heißt vor allem, die Gedanken und Überlegungen anderer in selbständiger Manier zu werten, abzulehnen oder fortzuführen!

Wenn der Akzent auf dem Denken liegt, dann darf die Lautstärke nicht übertrieben sein. Das Aufreißen des Maules mag beim Zahnarzt nötig er­scheinen und wird von ihm geschätzt, im öffentlichen Leben jedoch viel we­niger . . .

Ferner ist anzumerken, daß sich po­litischer Verstand und Sachverstand nicht unbedingt zu decken brauchen, wenigstens nicht auf kurze Sicht. Et­was kann in einem bestimmten Mo­ment sachlich falsch und politisch dennoch richtig sein. Indessen muß die Deckung irgendwann wieder her­gestellt werden, und zwar möglichst bald.

Man sieht das besonders in der Wirtschaftspolitik, wo der Aufschub fälliger Maßnahmen wie ein süßes Gift wirkt, das zur Folge hat, daß Rückschläge später dann um so här­ter ausfallen . ..

Ein Charakteristikum der Politik ist, daß sie fast stets nur auf die nahe Zukunft, gewöhnlich bis zu den näch­sten Wahlen, angelegt wird, obwohl dahinter natürlich eine Langzeitstra­tegie stecken kann. Die Weitsicht schreibt man hierbei dem Staatsmann zu, die Kurzsicht dem Politiker. Für diesen liegt die Schwierigkeit darin, daß er nicht gern kratzt, bevor es ihn beißt. Er sollte sich aber doch gele­gentlich vorstellen, wo es ihn beißen könnte ...

Bismarck hat die Politik als Kunst bezeichnet, nämlich die „Kunst des Möglichen“, und ich habe bis jetzt keine bessere Umschreibung gefun­den. Damit ist gesagt, daß es im politi­schen Kalkül nicht nur rationale, logi­sche Überlegungen gibt, die der Com­puter bald mit viel größerer Zuverläs­sigkeit liefern dürfte, sondern daß auch viel Emotion, Psychologie und Irrationalität hineinspielen.

Deshalb gehören zum Vollblutpoli­tiker ebensosehr Phantasie, Gespür und Intuition. Der homo politicus muß sich in sehr verschiedene Situa­tionen einzufühlen verstehen, um sie zu integrieren bzw. für seine Zwecke nutzen.

Deshalb versuchen die Politiker nicht nur, Wind zu erzeugen, was nur vorübergehend gelingt, sondern Strö­mungen aufzufangen und in ihre Ka­näle zu leiten. Und wer das am besten kann, ohne sich selbst aufzugeben und nur mitzuschwimmen, dem winkt die Palme des Erfolges . . .

Es reizt mich, auch einen Blick auf die politische Sprachregelung.zu wer­fen. Sie hat ihre eigenen Gesetze und ist oft sehr skurril. Am extremsten manifestiert sie sich, wenn der Sinn ei­nes Ausdrucks völlig auf den Kopf ge­stellt und in sein Gegenteil verdreht wird..

Dafür müssen beispielsweise die Begriffe „Freiheit“ und Demokratie“ in bestimmten Ideologien ausgiebig herhalten. Der Erfolgszwang, dem die Parteien in einem pluralistischen Sy­stem ausgesetzt sind, kommt aber ebenfalls nicht ohne verbale Image­pflege aus. Vor allem will keiner ein Verlierer sein.

Bei einer Wahl etwa: Eine Partei rechnet sich zu den Gewinnern, allein schon, weil sie kein Mandat verloren hat. Hat sie aber solche verloren, dann ist sie trotzdem glücklich, weil der Hauptgegner noch mehr Haare lassen mußte.

Die andere Gruppe hat zwar kein Programm, aber populäre Kandida­ten, die das Rennen machen. Sie wer­den gefeiert, wenn sie sich auf leere Stühle sitzen, mit denen sie nichts an­zufangen wissen. Und sogar der un­terlegene Aspirant hat gewonnen, nämlich seine Unabhängigkeit und die Verfügung über seine Zeit...

Ein vielbenützter und vieldeutiger Begriff ist in der Politik derjenige der Solidarität. Man beruft sich mit Vor­liebe darauf, wenn man etwas ver­langt, für das andere bezahlen sollen. Machen es aber andere so, indem sie für sich fordern, was wir bezahlen sol­len, dann ist das Unverschämtheit, Verletzung der Menschenrechte und Einschränkung der persönlichen Frei­heit.

In diesen Dingen kommt es natür­lich auf das Maß an. Niemand braucht Solidarität zu üben, bis er gänzlich enteignet ist, auch wenn die Expropriation der Expropriateure meist nicht lange auf sich warten läßt; denn solche Prozesse haben einen un­heimlichen Steigerungseffekt in sich.

Ein politisches Modewort von heu­te ist dasjenige des „mündigen Bür­gers“. Daran knüpft man die Vorstel­lung von Rechten, Information, Kon­sultation, Mitsprache, und materiel­len Verbesserungen.

Mündigkeit, das wird leicht verges­sen, hat aber sehr viel mit Pflichten, Verzichten, vernünftiger Haltung zu tun, während es für den unter elterli­chen Gewalt Stehenden oder Bevor­mundeten bezeichnend ist, daß er wohl eine Menge Rechte hat, aber die Verpflichtungen daraus nicht wahrzu­nehmen vermag!

An dieser einseitigen Präsentation der Rechte sind wir alle nicht unschul­dig. Behörden und Parlamentarier überbieten sich doch oft, besonders in Wahlperioden, Geschenke zu vertei­len, Versprechungen zu machen, Vor­stöße zu lancieren, deren Verwirkli­chung äußerst kostspielig wäre.

Über die Lasten wird weniger dis­kutiert, meist nur gejammert im Zu­sammenhang mit den leeren Kassen und der Staatsverschuldung. Was Wunder, wenn der Bürger-der junge und der alte - sich mehr und mehr daran gewöhnt. Rechte und Leistun­gen zu fordern und die Verpflichtun­gen zu verdrängen.

Es scheint mir dies eine moderne Art von Schizophrenie, der nur entge­gengewirkt werden kann, wenn Ge­ben und Nehmen sich wieder in einem überschaubaren Personenkreis abwik- keln, und besonders, wenn das eigene Portemonnaie auch irgendwie betrof­fen wird.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung