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Der Wall in der Baugrube

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Noch immer sagen die Wiener, wenn sie vom ersten Bezirk reden, „die Stadt“ und meinen damit den bis 1858 von Mauern umgebenen Kern der Donaumetropole. Der Bau der U3 und der Station Stubentor machen es möglich, daß diese im Sprachgebrauch erhalten gebliebene Erinnerung zumindest wieder teilweise optisch sichtbare Gegenwart wird: Ab 1991 wird jeder Passant durch die Stadtmauer in die „Stadt“ gelangen. Sie wird gegenwärtig von Archäologen des Historischen Museums der Stadt Wien unter der Leitung von Reinhard Prohanka ausgegraben und später in die Stationsabgänge von Dr.-Karl-Lueger-Platz und Wollzeile integriert werden.

Bei dem freigelegten Abschnitt der Stadtmauer handelt es sich um die Reste von zwei verschiedenen Schutzwällen. Die einen stammen von der unter Herzog Leopold V., dem Tugendhaften (1157-1194), aus dem Lösegeld für den in Dürnstein gefangengehaltenen englischen König Richard Löwenherz errichteten Befestigung. Sie war mit Zinnen und Schießscharten versehen und neben einem Tordurchgang, dem Stubentor, durch den gewaltigen „Schwarzen Turm“ befestigt.

Der zweite Wall wurde zwischen 1555 und 1566 geschaffen. Nach dem Abzug der Türken unter Sultan Suleiman hatte man beschlossen, die nicht mehr widerstandsfähige Stadtmauer und die Stadttore zu erneuern. Allerdings trug man damals die aus großen Bruchsteinen und aus römischen Mauern des zweiten Jahrhunderts errichtete Stadtmauer nicht zur Gänze ab, sondern bezog sie in den Renaissancebau mit aufwendiger Toranlage und schöner Fassade mit ein. Auch unter Kaiser Franz Joseph, der im Zusammenhang mit seinen Stadterweiterungsplänen die Mauern schleifen ließ, kam das keinem wirklichen Abbruch gleich. Man kappte vielmehr die Mauern nur bis zur Fahrbahnhöhe der Wollzeile ab. Hatte sich doch das Bodenniveau seit dem 12. Jahrhundert um fast vier Meter gehoben.

Die Aufdeckung der für rund 130 Jahre unter Pflastersteinen verborgenen Stadtmauer stellt aber nicht den einzigen Fund dar, der durch den Bau der vom Westbahnhof durch die Innenstadt nach Erdberg verlaufenden U3 gemacht werden konnte und einen Beitrag zur Aufhellung der Stadtgeschichte liefert. Im Nahbereich der Haltestelle Stubentor stießen die Archäologen auch auf den ehemaligen Stadtgraben, der als billiger Schuttabladeplatz benützt worden war. Tausende von Keramikscherben und einige Münzen geben Auf Schluß über die Lebensgewohnheiten des mittelalterlichen Menschen.

Einkerbungen auf den Mauern des Stadtwalls bezeugen die Verankerung einer Holzbrücke, die über den Stadtgraben und weiter bis zur Stubenbrücke über den Wienfluß geführt hat. Eine im Stadtpark ausgehobene Abfall-grube, die Leder- und Preßrückstände enthalten hat, läßt den Schluß zu: hier waren Gewerbebetriebe — darunter ein lederverarbeitendes Unternehmen — untergebracht.

Vom römischen Wien, das in zeitgenössischen Dokumenten Vindobona, aber auch Bendobona oder Vindomona, Vindomara und Vindomina genannt worden war, fanden die Archäologen allerdings weniger als erwartet. Vor allem von der alten Limesstraße war kein Stein zu orten. Das heißt, jene Verkehrsader, die das nicht gerade bedeutende Vindobona mit der römischen Provinzhauptstadt Carnuntum verbunden hatte, muß entweder etwas anders verlaufen sein als angenommen, oder sie ist bereits bei diversen Stadtbereinigungen des 19. Jahrhunderts zerstört worden.

Fündig wurden die Archäologen erst wieder auf dem Minoritenplatz. Dort hatte man schon 1935 ein römisches Gräberfeld aus dem 2. Jahrhundert angeschnitten. Jetzt fanden die Wissenschaftler zehn weitere Gräber aus dieser Epoche. Aber auch Grabanlagen aus dem Mittelalter und der Barockzeit wurden festgestellt: Die mittelalterlichen konnten in der Krypta der ebenfalls freigelegten Ludwigskapelle nachgewiesen werden, die zwischen 1316 und 1328 in Erweiterung des Chores der 1350 eingeweihten Minoritenkirche erbaut worden war. Bei den Toten handelt es sich um dreißig Angehörige des Adels, die mit Brustkreuzen und Halsmedaillons zur letzten Ruhe bestattet worden waren.

Wie aus der Fundsituation hervorgeht, hat man einen Mann als Scheintoten in die Gruft gelegt. Man fand sein Skelett mit dem Rücken nach oben und verdrehten Händen.

Der barocke Friedhof diente als Grabstätte der Minoriten, die sich wie die Mitglieder anderer Bettelorden — Dominikaner, Schotten, Jakobiner und Augustiner — im 13./14. Jahrhundert an der Stadtmauer niedergelassen hatten, ehe sie 1784 wieder abzogen und Kirche samt Kapelle der italienischen Nation überließen. 1787 wurde die Ludwigskapelle zu einem Wohnhaus umgestaltet und in das Kongregationshaus einbezogen, das 1903 abgebrochen wurde.

Zur Zeit befinden sich alle Skelette zur anthropologischen Untersuchung im Humanbiologischen Institut. Danach werden sie in der Minoritenkirche wiederbestattet. Bereits beseitigt hat man auch die Ruinen der Ludwigskapelle. Eine Umrißzeichnung aus farbigen Steinen wird auf dem Granitboden des Minoritenplat-zes auf den Standort der Kapelle hinweisen. Zudem sollen in Vitrinen ausgestellte Einzelfunde den U-Bahn-Benützern zeigen, wie der Hausrat der Wiener Bürger im Mittelalter ausgesehen hat.

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