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Die neue Religionsfreiheit

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Das „christliche Ungarn” gehört eindeutig zur Vergangenheit, die Säkularisierung vollzog sich nicht nur wegen der mehr als 40jährigen Herrschaft der Ideologie des Marxismus, sondern wegen des zunehmenden Einflusses der Konsum-Mentalität des Westens.

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Das „christliche Ungarn” gehört eindeutig zur Vergangenheit, die Säkularisierung vollzog sich nicht nur wegen der mehr als 40jährigen Herrschaft der Ideologie des Marxismus, sondern wegen des zunehmenden Einflusses der Konsum-Mentalität des Westens.

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Während der kommunistischen Diktatur litten die Kirchen und Religionsgemeinschaften Ungarns unter grober Verfolgung. Durch Abkommen mit dem Staat konnte eine begrenzte Anzahl konfessioneller Schulen überleben: acht katholische Mittelschulen, ein kalvinistisches und ein jüdisches Gymnasium. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren aber noch rund 60 Prozent der Schulen in Ungarn in kirchlicher Trägerschaft.

Unter dem Kädärschen Regime dauerte die Diskriminierung weiter an. Die Religionsfreiheit wurde immerhin als Freiheit des Kultes interpretiert, aber religiöse Menschen wurden auf verschiedenste Weise benachteiligt. Das staatliche Kirchenamt übte eine tiefgreifende Kontrolle über das Leben der Kirchen aus.

Die Wende erfolgte 1989. Das Kirchenamt wurde „ohne rechtlichen Nachfolger” aufgelöst. Noch vor den freien Wahlen hat das Parlament das Gesetz über die Gewissens- und Religionsfreiheit und über die Kirchen verabschiedet. Durch dieses Gesetz wird das Recht der Eltern gesichert, über die moralische und religiöse Erziehung der Kinder zu entscheiden, und das der Kirchen, Schulen zu tragen. Damit wurde das Schulmonopol des Staates und die obligatorische marxistische Erziehung in den Schulen aufgehoben.

Die Gründung einer Kirche oder Religionsgemeinschaft ist heute sehr leicht. „Eine Kirche kann zwecks Ausübung aller religiösen Tätigkeiten gegründet werden, die der Verfassung nicht widersprechen und gegen kein Gesetz verstoßen” - so lautet der Gesetzestext. Zum Gründen einer Kirche braucht man bloß hundert natürliche Personen, ein Statut und Verwal-tungs- und Vertretungsorgane. Was die Lehre einer Kirche betrifft, wird nicht geforscht. Diese Großzügigkeit des Religionsgesetzes hat auch viele Probleme mit sich gebracht. Mehr als 50 Kirchen und Religionsgemeinschaften sind schon registriert, und die Problematik der sogenannten Sekten (die Gesetzgebung kennt natürlich diesen Begriff nicht) ist zu einer alltäglichen Erscheinung des Lebens geworden.

Nach den freien Wahlen von 1990 hat das Regierungsprogramm den Kirchen eine bedeutende Rolle in der Erneuerung der Gesellschaft zugeschrieben. Die Regierung betrachtet die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Träger wichtiger moralischer Werte. In der moralischen Erneuerung, im Prozeß des Aufbauens eines Rechtsstaates haben sie eine unersetzbare Aufgabe. Die Regierung fühlt sich verpflichtet, die Kirchen zu rehabilitieren, nicht nur moralisch, sondern auch materiell, und ihre „Funktionsfähigkeit” herzustellen.

Diese Zielsetzung der Regierung führte zur Verabschiedung eines Gesetzes (XXXII/1991), das den Kirchen jene Immobilien (Ordenshäuser, Schulgebäude, Kirchen, Kapellen, Krankenhäuser...) durch einen administrativen Prozeß zurückgibt, die im Jahre 1948 im kirchlichen Besitz und im Jahre 1991 Eigentum des Staates oder der Gemeinden waren, aber vor der Säkularisierung gottesdienstlichen, erzieherischen oder karitativen Zielen dienten, sofern die ursprünglichen Besitzer sie für die Verwirklichung des gleichen Zieles wieder besitzen möchten.

Das kann aber ohne Spannungen in der Politik nicht geschehen. 13 Religionsgemeinschaften haben ihren Antrag auf circa 6.000 Gebäude eingereicht - und die Zeitungen schreiben ohne Unterlaß über die unendliche Habgier der Kirchen. Es geht aber nicht um eine Restauration des Zu-standes vor der Säkularisierung, nur um die Herstellung einer relativen Funktionsfähigkeit. Der Großbesitz der Kirchen wird nicht zurückgegeben, im erwähnten Gesetz geht es nur um bestimmte Gebäude. Ein weiteres Problem ist, mit welchen Mitteln die Kirchen diese Immobilien umbauen oder restaurieren können, damit zum Beispiel eine Kapelle, die 30 Jahre lang als Garage diente, wieder wie eine Kapelle aussieht...

Da die Kirchen praktisch mittellos dastehen, fühlt sich der Staat verpflichtet, den Kirchen finanzielle Hilfe zu leisten. Unter folgenden Titeln: die sogenannte Grundtätigkeit der Kirchen, Bauten (Renovierung, Errichtung), Religionsunterricht, normative Finanzierung der Schulen, Altersheime...

Immer wieder behaupten Stimmen, daß eine solche Finanzierung nicht die Lösung der Kirchen vom Staat sichere, sondern die Kirchen der Budget-Diskussion im Parlament ausliefere. Bis eine entsprechende Entschädigung der Kirchen erfolgt, gibt es aber kaum eine andere Lösung.

Manche meinen, Rolle und Bedeutung der Kirchen würden überschätzt. Laut soziologischen Untersuchungen ist aber der Prozentsatz religiöser Menschen trotz der atheistischen Propaganda der vergangenen Jahrzehnte nicht unbedeutend. In einer liberalen Wochenzeitung (Besz61ö, 29. Februar 1992) konnte man folgende Statistik lesen: Religiös sind 17,9 Prozent der Bevölkerung, eindeutig nicht religiös 28 Prozent. Diejenigen aber, die sich zwischen diesen zwei eindeutigen Gruppen befinden, sind „mehr oder weniger religiös”. Das heißt: Die überwiegende Mehrheit der ungarischen Bevölkerung steht unter dem Einfluß der Religion, wenn auch die Mehrheit keine Kirchenbesucher sind.

Die Anzahl der Kinder, die Religionsunterricht besuchen, nimmt zu. Das Ministerium für Bildung und Kultur finanziert den Religionsunterricht der Kirchen gemäß der Anzahl der Gruppen. Im Schuljahr 90/91 gab es 24.150 Gruppen, im Jahr 91/92 31.060 und im Jahr 92/93 34.790. Etwa ein Drittel der Schulpflichtigen besucht Religionsunterricht (in der Schule oder in der Kirche). Die Neugründung oder Übernahme ehemaliger kirchlicher Schulen geht nur mit Mühe voran. Nicht einmal zwei Prozent der ungarischen Schulen haben kirchliche Träger.

Die Wunden der vergangenen Jahrzehnte können durch einige Gesetze nicht geheilt werden. Man braucht Zeit, Geduld, Toleranz, bis sich auch die Mentalität der Gesellschaft verändert. Die Kirchen brauchen Hilfe von der Gesellschaft, um ihre Sendung erfüllen zu können. Und die Gesellschaft braucht die Kirchen, um moralisch geheilt zu werden. Ein demokratischer Staat trägt viel Verantwortung für die Zukunft. Die Sache der Religion darf keine Privatsache sein.

Der Autor, Benediktiner der Abtei Pannonhal-ma, ist Staatssekretär im ungarischen Kultusministerium.

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