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Im Wohlstand leben

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Rein medizinische Fragestellungen treten zugunsten sozialmedizinischer und medizinisch-organisatorischer Probleme immer stärker in den Hintergrund. Auch die Van-Swieten- Jubiläums-Tagung in der Wiener Hofburg hat diesen Eindruck wieder verstärkt. Natürlich lag das zum Teil auch an den Zufälligkeiten der Themenrotation. Aber einiges, was auf der Tagesordnung der Tagung stand, hätte in Kenntnis der Tatsache, daß Österreich demnächst in den Besitz eines Gesundheitsministeriums gelangen soll, nicht besser „getimed“ werden können. (Tatsächlich wurde die Tagung im Sommer vorbereitet, als man allenfalls wußte, daß. eine Wahl stattfinden, kaum aber, wie sie ausgehen werde.)

Einige. besonders brisante Themen standen allerdings nicht auf dem Programm der eigentlichen Van- Swieten-Tagung, sondern blieben dem unmittelbar anschließenden und in engstem Zusammenhang damit stehenden Kongreß für ärztliche Fortbildung vorbehalten. So das

Thema „Wohlstand als Krankheitsursache“ oder die Frage der „Schädigungen durch die Umwelt“ sowie der „Gesundheitsgefährdung durch Rauschgifte“; auf dem zuletzt genannten Gebiet kommt Österreich die Tatsache zugute, daß wir internationalen Tendenzen nachhinken, so daß die Rauschgiftwelle bei uns nie zur vollen Entfaltung kam. \

Professor Flamm deutete in seinem Referat über die Erhaltung des gesunden Lebensraumes die Probleme an, die eines nahen Tages allein schon aus der Tiefkühlmassenverpflegung in Werksküchen und ähnlichen Einrichtungen, in denen immer mehr und mehr Menschen immer schneller und schneller verköstigt werden, entstehen dürften. Sicher wird nach der Errichtung des Gesundheitsministeriums von ärztlicher Seite auch verstärkt auf eine Verstärkung der Deklarationspflicht für die Nahrungsmittelindustrie gedrungen werden, die sich in Österreich, wo immer sie kann, mit dem nebulösen und keine Auskunft über die

Lagerungsdauer beim Kleinhändler gebenden Formulierung „Zum alsbaldigen Verbrauch bestimmt“ begnügt, aber beim Export alle Auflagen der Bestimmungsländer klaglos zu erfüllen in der Lage ist

Dicke und Dünne

Zahlreiche Referenten der beiden Kongresse bewegten sich in dem Überschneidungsgebiet zwischen medizinischen, sozialmedizinischen und verwandten Themenkreisen. Neben der Umweltverschmutzung schälte sich die Verfressenheit der Wohlstandsgesellschaft fast als Volksfeind Nummer 1 des zwanzigsten Jahrhunderts heraus. Während Professor Wenger zu verstehen gab, daß ein Infarktpatient, der unter dem Druck ärztlicher Ratschläge nach der Ausheilung sein Gewicht reduziert, nach dem Infarkt oft gesünder ist als vor dem Infarkt als dicker Mensch. Übergewicht sei, von einem bestimmten Ausmaß an, durchaus als Krankheit zu betrachten und Dicke leben gefährlicher als Dünne — bei Verkehrsunfällen ist das Todesrisiko der Übergewichtigen gegenüber dem gesunder Normalgewichtler verdoppelt, das Zuckerkranker sogar verdreifacht. Besonders gefährlich ist die Kombination von Zuckerkrankheit und Übergewicht.

Von der Kardiologischen Universitätsklinik in Wien wird seit einigen Monaten ein Modell möglicher Infarkt-Alarmmedizin in Zusammenarbeit mit einem Dutzend Praktikern erprobt. Diese 12 Praktiker sind im Besitz einer Geheimnummer, ereignet sich in ihrem Patientenkreis ein akuter Herzanfall, rast mit Blaulicht und Folgetonhom ein Funkwagen mit Arzt und Helfer (Sowie EKG-Gerät, Schockgerät, Indusions- ausrüstung und so fort) zum Patien ten. Dieses Experiment kommt schon im gegenwärtigen Stadium rund 100.000 Einwohnern zugute — ihnen kann bei einem Herzanfall schneller geholfen werden als dem Rest der Bevölkerung. Wird nach diesem Modell eine Organisation zur Betreuung der Gesamtbevölkerung aufgebaut, wäre allerdings nicht nur entsprechendes ärztliches Personal nebst Wagenpark für die Alarmfahrten, sondern auch die Bereitstellung von sechs bis acht Betten pro 250.000 Einwohner nötig. (Natürlich nicht nur der Betten, sondern des gesamten Personalapparates und Geräteparks, der in dieser betreuungsintensiven Sparte der Medizin nötig ist.)

So gesehen, waren Isotopenmedi- zin sowie Diagnose und Therapie des Darmverschlusses eigentlich die einzigen „rein medizinischen“ Themen, während das Hauptthema der grippösen Erkrankungen in einem eminenten Maß ein sozialmedizinisches Problem ist. Die Bereitstellung des richtigen Impfstoffes in genügenden Mengen ist noch immer jedes Jahr ein Mittelding zwischen Prophylaxe und Lotterie, wobei sich die vorbeugenden Impfungen aber, statistisch gesehen, bewähren — auch wenn es den Referenten Möse nach zweimaliger Impfung besonders arg erwischte.

Wie ernst die Gruppe nach wie vor genommen werden muß, beweist eine Kärntner Statistik aus dem Grippejahr 1969. als die Grippewelle zu einer Ubersterblichkeit von 90 Prozent führte: Statt durchschnittlich 472 Menschen wie sonst im Dezember, starben im Grippedezember 1969 nicht weniger als 897 Menschen. Die Mehrzahl von ihnen fiel natürlich nicht der Grippe zum Opfer, aber die Grippe reduzierte die allgemeine Widerstandsfähigkeit des Körpers, so daß es häufig zu lebensgefährlichen Mischinfektionen kam.

Wobei sich zum sozialmedizinischen Problem das medizinisch-soziologische Problem überbeanspruchter praktischer Ärzte gesellte, die, obwohl ohnehin voll ausgelastet, während einer Grippewelle zusätzlich 20 bis 40 Patienten behandeln müssen.

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