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Lektionen für Reformer

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„Was die Menschen in Polen heute aufregt, ist nicht der repressive Charakter des Systems, sondern die ruinöse Entwicklung der Wirtschaft.“ Recht offenherzig gibt sich der Pressesprecher der Regierung, Jerzy Urban, gegenüber einer Gruppe österreichischer Journalisten in Warschau.

Es mangelt, Jahre nach Aufhebung des Kriegsrechtes und der Beendigung von Wirtschaftssanktionen, an fast allen Ecken und Enden: an Arzneien, Rohstoffen, Babynahrung, Toilettenpapier, frischem Obst. Fleisch ist rationiert, Wurst, Benzin und Schokolade ebenso. Auf eine Wohnung wartet man durchschnittlich 20 Jahre. Es gibt die Flucht in Drogen, den Alkohol...

„Aber“, so Urban, „es geht aufwärts, und Polen steht heute am Vorabend der zweiten Etappe der 1981 beschlossenen Wirtschaftsreform.“

Solche Töne, wie kürzlich die von Polens Regierungssprecher, kommen jetzt zahlreich aus östlicher Richtung. Zuletzt vom tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Lubomir S^trougal, der vergangenes Wochenende „die größte Wirtschaftsreform seit 1948“ (dem Jahr der kommunistischen Machtergreifung) proklamierte. Bulgarien kündigte an, im Dezember ein konkretes Konzept der „Perestrojka“ vorzulegen. Ungarn preschte — obwohl es dort schon seit den fünfziger Jahren den „Gulaschkommunismus“ gibt — mit einem „Programm zur wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklung“ vor. Ein wahres Feuerwerk an Signalen und Ankündigungen, begleitet von einer Litanei an Appellen nach mehr persönlichem Einsatz, mehr Ren-tabilitäts- und Effizienzstreben, kommt da aus dem Osten.

Was bewegt Warschau, Sofia, Budapest oder Prag zu alledem? Ist es ein Eingeständnis eigenen Versagens? Ist es die List der Vernunft? Ist es die Folgsamkeit gegenüber dem „großen Bruder“ in Moskau? Oder wird hier schlicht Nachahmenswertes der westlichkapitalistischen Konkurrenz übernommen? Freüich, ohne daß man das offen ausspricht („So etwas sagt man nicht, so etwas tut man nur“, bekam schon der erste Revisionist des Marxismus, Eduard Bernstein, ins Stammbuch geschrieben). Oder kommt es gar zur Wiedereinführung des Kapitalismus? Immerhin, man liest von Dekreten und Beschlüssen, nimmt zur Kenntnis, daß Restaurants oder Schuhmacher selbständig agieren sollen; große Betriebe werden erweiterte Spielräume für eine eigenständige Unternehmenspolitik bekommen ...)

Eine solche „Gefahr“ besteht indes wohl kaum: Weder Moskau noch die Satellitenstaaten sollen dem Sozialismus abschwören, sondern nur das System von Schlacken und Verkalkungen befreien. „Die im Wirtschaftsprozeß Tätigen sollen motiviert und mobilisiert werden, aus unseren bürokratischen Direktoren müssen wir ökonomisch denkende Manager machen“, faßt es Wieslaw Sa-dowski, der Vizepremier Polens, zusammen.

Das heißt natürlich, daß man die Werktätigen aus der Rolle des (bisher) bloßen Befehlsempfängers herausholen, sie sozusagen „von oben“ her emanzipieren muß.

So etwas läßt sich—nicht nur in Polen — selbstverständlich kaum per Dekret herbeizaubern. Und hier laboriert man an einem Teufelskreis:

Polens Arbeitnehmer zum Beispiel, empfinden ihre persönliche und die gesamtwirtschaftliche Situation als schlecht. Es gibt keine Perspektiven, „es fehlt das Vertrauen des Volkes in die Regierung“, bringt Stanislaw Kwiat-kowski, Direktor des „Zentrums zur Erforschung der öffentlichen Meinung“ das Problem auf den Punkt. Eine Befragung im Juni untermauert das: lediglich 5,3 Prozent der Befragten schätzen die wirtschaftliche Situation Polens als „gut“ ein, 22,2 Prozent als „eigentlich schlecht“. Rund 40 Prozent wissen nicht, wie sie die Lage beurteilen sollen. Sie hoffen nur, daß es nicht noch schlimmer wird.

Das Hauptproblem aller osteuropäischen Wirtschaftsplaner besteht sicherlich darin, daß der „neue Mensch“, der da die Zukunft meistern soll, nicht nur in Parteiprogrammen, sondern auch an der Werkbank stehen muß. Nur ein solcher kann nämlich auch mit jenen höheren Krediten, die man vom Westen haben möchte, erfolgreich arbeiten.

Aber — zur Arbeitsfreude gehört (neben vielem anderen) auch Lebensqualität. Für Polen würde sie beispielsweise simpel darin bestehen, wenigstens eine halbwegs anständige Wohnung zu haben. Doch eine Verbesserung der Notlage ist, das wird auch offen zugegeben, derzeit nicht in Sicht.

Die neuen Ideen und Perspektiven der östlichen Wirtschaftspolitiker werden so gesehen wohl auch nicht der Weisheit letzter Schluß sein können, weil genau solche Voraussetzungen (Vertrauen, Freude) sich nicht mit den jetzigen technokratischen Rezepten schaffen lassen.

Vielleicht hat ein kluger Pole namens Karel Wf jtyla in „Labo-rem exercens“ doch recht, wenn er sagt: „Die Person ist mehr als ein Element im System; Wirtschaft ist ein Werk von Menschen, und sie soll ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.“ Ob die Reformdenker und Planbürokraten mit dieser Lektion etwas anfangen können, die die Realität ihnen da aufgibt?

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