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Polen kennt keine Angst

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Polen ist derzeit unregierbar. Das Jaruzelski-Regime weiß um diese Ohnmacht: eine Regierung ohne Volk. Und die Polen sind ein Volk ohne Regierung. Zu ihr haben sie jedes Vertrauen verloren, vor ihr aber auch jede Angst. Eine momentane Patt-Stellung - aber sie ist keinesfalls ausweglos.

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Polen ist derzeit unregierbar. Das Jaruzelski-Regime weiß um diese Ohnmacht: eine Regierung ohne Volk. Und die Polen sind ein Volk ohne Regierung. Zu ihr haben sie jedes Vertrauen verloren, vor ihr aber auch jede Angst. Eine momentane Patt-Stellung - aber sie ist keinesfalls ausweglos.

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„Die Leute haben keine Angst. Der Kriegszustand ist mit dieser Generation nicht mehr zu wiederholen — die Regierung könnte nur noch eines: schießen“, umreißt ein Krakauer Intellektueller die Situation der Konfrontation, die rund um die angekündigten saftigen Preiserhöhungen in Polen entstanden ist.

„Aber“, fügt der Gesprächspartner auch sogleich hinzu, „die Regierung ist ängstlicher geworden.“ Vor allem vorsichtiger.

Und tatsächlich: Tage bevor man im Westen von einem Rundschreiben an KP-Funktionäre, Minister und Woiwoden im Auftrag Jaruzelskis Kenntnis erhielt, in dem angewiesen wird, in dieser spannungsgeladenen Situation alle „unpopulären Entscheidungen“ hintanzuhalten und „Konflikte mit Mitgliedern der Kirche“ zu vermeiden, wußte man — etwa in Danzig—schon von einer mündlichen Jaruzelski-Weisung: Um den Unmut in der Bevölkerung zu bremsen, sollte jeder Konflikt mit der Kirche vermieden werden.

Auch die Kirche mahnt, von Gewalt Abstand zu nehmen. Und selbst der Aufruf der Unter-grund-„Solidarnošč“ zum Widerstand gegen die Preiserhöhungen, als Aufforderung zum Aufruhr zu verstehen.

„Unruhen“, meint daher ein prominenter Berater von Primas Jozef Glemp, „sind zwar möglich, obwohl nicht sehr wahrscheinlich.“ Und alle Gesprächspartner wissen um die Taktik, mit der die polnischen Machthaber derzeit agieren: Die Preissteigerungen wurden höher angekündigt, um genügend Spielraum zu bekommen; die empörte Reaktion der Bevölkerung war einkalkuliert.

Und dann fällt die Teuerung, glaubt man, zwar noch immer schmerzlich genug, doch niedriger aus.

Wobei das Regime um taktische Winkelzüge nie verlegen ist. Angesichts der Schwierigkeiten bei der Fleischversorgung läuft nun etwa in Polen eine großangelegte Kampagne, in die Wissenschaftler von Rang und Namen eingespannt werden: Vegetarier, trichtert man den Polen ein, leben gesünder und länger.

Trotzdem: Die Preise steigen, der Lebensstandard sinkt und die Wirtschaft liegt darnieder: akuter Kapitalmangel.

Nur ein Wirtschaftszweig funktioniert problemlos: die Rüstungsindustrie.

Das ist das Ergebnis von westlicher Sanktionspolitik und östlicher Bruderhilfe.

Trotzdem ist Ronald Reagan mitsamt seinem harten Kurs bei den Polen ungeheuer populär, Moskau hingegen verhaßt.

Glemp-Berater Stanislaw Stomma weiß um diese Emotionen und sagt auch gleich dazu, daß sich seine Meinung nicht mit der der Mehrheit deckt, wenn er den Vereinigten Staaten Unausgewogenheit vorwirft und die Haltung der Bundesrepublik Deutschland als richtig und vernünftig empfindet.

Aber eines wird aus allen Gesprächen klar: Ohne Wirtschaftshilfe aus dem Westen — auch wenn die Chancen auf Rückerstattung kurz- und mittelfristig gering sind — kann Polen keinen Ausweg aus seinem Wirtschaftstief finden. Und je länger sie noch ausbleibt, desto enger wird das Land in die Arme Moskaus gedrückt.

Die Ereignisse haben das Bewußtsein überholt. „Die Menschen wissen eigentlich nicht, wie groß die Abhängigkeit Polens von der Sowjetunion wirklich ist“, ist ein Warschauer Historiker überzeugt. Und ein Danziger Mediziner schlägt ebenso in diese Kerbe: „Damit sich in Polen etwas ändert, muß sich in Moskau etwas ändern.“

Was? Stommas Perspektive, gleichermaßen Hoffnungen, die er in West und Ost setzt: „Wir sind angewiesen auf die Entspannung und die kommt früher oder später — auch für uns.“

Nur in einem Klima der Entspannung könnte das Jaruzelski- Regime jenen Spielraum zurückgewinnen, der notwendig wäre, um Polens Probleme zu lösen.

Dabei ist allen - auch manchen Vertretern der Regierung — klar: Ohne eine gewisse politische und ökonomische „Demokratisierung“ kann es keinen Ausweg aus der (auch ökonomischen) Krise geben.

Ein Hoffnungsschimmer: Episkopat und Staat verhandeln — vorerst noch erfolglos — über die Schaffung eines Landwirtschaftsfonds unter der Obhut der Kirche. Mit diesem Fonds, gespeist durch Hilfe aus dem westlichen Ausland (auch Lech Walesa hat seinen Nobelpreis dafür gestiftet), soll die polnische Landwirtschaft, zu drei Vierteln privat, gefördert und ein privates Kleingewerbe ausgebaut werden.

Augenblicklich stehen der Stiftung noch ideologische Barrieren ihi Weg. Teile der Regierung befürchten eine „Zersetzung sozialistischer Strukturen“.

Doch Ideologie wird zunehmend kleiner geschrieben. Die Nöte der militärischen Machthaber sind drückender als die Sorgen der spärlichen Ideologen. „Die Partei“, meint ein kritischer Gesprächspartner zur KP-Rolle, „ist oft nur noch Dekoration“.

Zweiter Hoffnungsschimmer: Die „freien Gemeinderatswahlen“, von Herbst 1982 auf 1984 vorerst vertagt, könnten ebenso auf einen neuen Versuch hindeuten, ein liberaleres Gesicht zu zeigen. Man hört sogar, daß es bereits den Entwurf für eine Wahlordnung geben soll.

Nicht Resignation, sondern gebremste Zuversicht kennzeichnet dieses Polen vor dem sicherlich harten Winter. Hoffentlich kommt das Tauwetter nicht zu spät.

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