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Perfektionismus droht, Vernunft zu vertreiben

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Das Europäische Forum Alpbach beging den 35. Jahrestag seiner Gründung. Dies wäre ein reizvoller Anlaß, die Geschichte dieses nach wie vor international hoch angesehenen Gesprächsforums einmal aus der Perspektive „Alpbach - Utopie und Wirklichkeit” zu beleuchten. Alpbach - das war einmal in der Tat so etwas wie das Versprechen einer besseren Welt, ein Aufbruch zu neuen geistigen Ufern nach einer Periode ungeheurer materieller und geistiger Verwüstungen. Doch 35 Jahre sind eine lange Zeit und gewisse Abnützungserscheinungen durchaus natürlich.

Alpbach hat sich völlig etabliert, es ist zu einer Schaubühne des gesellschaftlichen Establishments geworden, so faszinierend auch das einzigartige Ambiente immer noch ist. Doch das eigentliche Problem liegt anderswo: in der wachsenden Unfähigkeit - oder Unwilligkeit? -, jene Herausforderungen, mit denen unsere unvollkommene Gesellschaft schon in allernächster Zukunft konfrontiert sein wird, auch nur zu sehen.

Ein Nachmittag zum Thema „Die unvollkommene Vernunft” stand zunächst im Zeichen einer heftigen Kontroverse zwischen dem berühmten Neurophysiologen und Nobelpreisträger Sir John Eccles und dem marxistischen Philosophen Adam Schaff. Was Schaff Eccles vorwarf, war nicht mehr und nicht weniger als die Flucht in den religiösen Fideismus und Mystizismus. Eccles verkörpere die in letzter Zeit in bestimmten wissenschaftlichen Kreisen in Mode gekommene Mystik, die notwendigerweise die Vollkommenheit des menschlichen Verstandes abstreiten müsse, da sie „von einer Einmischung übernatürlicher Kräfte in unsere diesseitigen Angelegenheiten ausgeht”.

Diese Mode werde mindestens aus drei verschiedenen Quellen genährt: aus der psychologisch durchaus verständlichen Frustration vieler Wissenschaftler, die mit dem Fortschritt des Wissens auf immer neue Probleme und Fragezeichen stoßen; aus bestimmten falsch formulierten Fragen, die zwar die Ängste des Menschen widerspiegeln, in dieser Form jedoch eine Beantwortung von vornherein ausschließen; und schließlich aus dem bewußten oder unbewußten Wunsch, sich der materialistischen Weltanschauung entgegenzustellen, und zwar nicht nur wegen ihrer philosophischen Konsequenzen, sondern vor allem auch wegen ihrer gesellschaftlichen Folgerungen, die durch die enge Verknüpfung zwischen Marxismus und Materialismus bedingt sind.

Zudem beruhe jener Gedankensprung, der der These von der notwendigen Ergänzungsbedürftigkeit des wissenschaftlichen Wissens durch den religiösen Glauben zugrunde liegt, auf einem Trugschluß: aus der unbestreitbaren Tatsache unseres unvollständigen und lückenhaften Wissens über die Welt folge keineswegs deren prinzipielle Unerkennbarkeit, wie dies der Agnostizismus von Plato bis Kant immer wieder behauptet habe.

Ganz im Gegenteil, zeige doch die ganze bisherige Geschichte der Wissenschaft, daß jedes scheinbare „Ignorabimus” erfolgreich überwunden werden konnte. „Der Sprung in die Transzendenz ist daher wissenschaftlich unbegründet und die zu seiner Begründung angeführte Argumentation eine Pseudoargumentation”, sagte Prof. Schaff wörtlich.

Diese gelten auch für John Eccles’ animistische Theorie eines psychophysischen Dualismus und Interaktionismus. Denn der Hervorgang des selbstbewußten Geistes auf einer bestimmten Stufe der biologischen Evolution bedürfe zu seiner Erklärung ebensowenig der Annahme eines unabhängigen geistigen Prinzips wie die Entstehung des Lebens aus dem Anorganischen der Hilfshypothese eines besonderen „Lebensprinzips”, wie sie seinerzeit vom Vitalismus vertreten wurde.

In seiner Replik blieb Sir John seinem Kontrahenten nichts schuldig. Was den Vorwurf des Mystizismus und Fideismus anbelangt, so fühle er sich diesbezüglich in bester Gesellschaft, etwa eines Albert Einstein, Max Planck, Werner Heisenberg und vieler anderer namhafter Naturforscher. Im übrigen erkläre der Materialismus gar nichts, ganz im Gegenteil, führe er doch Phänomene wie Altruismus, Liebe, Freude, Schönheit, auf dem Wege der Reduktion auf rein mechanische Vorgänge in der physischen Welt zurück, aus denen sich die Welt der Kultur und des Geistes niemals ableiten lasse.

Adam Schaffs Einwand, hier werde der Popanz des mechanischen Materialismus ąufgebaut, während er doch den dialektischen Materialismus eines Marx und Engels meine, ließ Eccles nicht gelten. Denn die Berufung auf die höhere Schöpferkraft der Dialektik sei genauso Glaubenssache wie seine eigene Überzeugung, daß Materie und Geist gleich ursprünglich sind.

Betreffe diese Kontroverse einen, wenn auch weltanschaulich hochinteressanten, Teilaspekt des Themas „Unvollkommene Vernunft”, die Frage der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit im weitesten Sinn religiös- spiritualistischer Komponenten der Welt- und Selbstdeutung, so zielten die Ausführungen von Prof. Lothar Schaefer, Hamburg, auf ganz bestimmte konkrete Gefahren ab, denen sich heute die unvollkommene und das heißt prinzipiell endliche Vernunft des Menschen gegenübersieht.

Diese Gefahren gehen, wie Schaefer betonte, heute nicht so sehr von bestimmten Ideologien und Heilslehren aus, die ihre utopischen Vorstellungen einer vollkommenen Gesellschaft den Menschen aufoktroyieren wollen. Ihre eigentliche Quelle sei vielmehr der ebenso maßlose wie unmenschliche Perfektionismus einer Technik, die sich längst von den Bedürfnissen des Menschen losgelöst hat und zum puren Selbstzweck geworden ist.

Konnte die anfängliche Technikentwicklung noch die Illusion nähren, daß eine Verbesserung der Instrumente und Maschinen quasi automatisch auch zu einer Verbesserung der menschlichen Lebensver-, hältnisse führen werde, so habe sich inzwischen klar gezeigt, daß mit der steigenden technischen Perfektionierung die Verfügbarkeit der Mittel im Dienste des allgemeinen Wohles eher abnimmt.

Dieser technische Perfektionismus führe nicht nur zu einer neuen Hete- ronomie der menschlichen Vernunft, er unterbinde auch die Entwicklung heute mehr denn je notwendiger Alternativen. „Wir sind dabei”, sagte Prof. Schaefer warnend, „die Vernunft, von der Aristoteles sagte, daß sie uns gleichsam von außen wie ein Steuermann ins Boot mitgegeben sei, durch den Perfektionismus unserer Technik, die nicht mehr die unsere ist, wieder von Bord zu treiben”

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