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Digital In Arbeit

Wozu arbeiten, leben?

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Ein Österreicher, der heute um die fünfzig Jahre ist, hat in seiner Jugend Kinder kilometerweise barfuß in die Schule gehen sehen. Heute kann er in Mistkübeln von Schulen Wurstsemmeln und Butterbrote finden, welche die mit Gratisautobussen beförderten Kinderlein dort hineinwerfen.

Das heißt mit anderen Worten: Wir sind von der Notgesellschaft in die Uberflußgesellschaft geraten. Das Mittel dafür hieß Industrialisierung.

Industrialisierung hat uns viele schwere Arbeitslasten abgenommen. Sie hat den Schweiß unseres Angesichts getrocknet, mit dem unsere Vorfahren ihr Brot hart verdienen mußten.

Durch Industrialisierung sind wir in der Lage, mehr Dinge zu produzieren, als wir fürs nackte Uberleben brauchen. Unsere Arbeit bringt uns nicht nur Mittel zum Uberleben, sondern auch zum besseren Leben. Lebensstandard nennen wir das, Lebensqualität. Heute ist in Österreich leben mehr als nicht verhungern. Das ist gut so.

Das ist gut so unter der Voraussetzung, daß wir vier Dinge nicht übersehen.

• Industrialisierung bringt nicht nur mehr Lebensstandard, sondern auch mehr Abhängigkeit. Wir haben die Früchte unserer Arbeit nicht mehr in unserer Hand wie einst ein kleiner Bauer oder Handwerker. Industrialisierung bedeutet mehr Abhängigkeit von einer riesigen Maschinerie, die man meistens einfach „Wirtschaft" nennt.

In der gibt es blühende Firmen, aber auch Firmenpleiten. 500.000 Firmen gehen in den USA in einem Jahr ein. 500.000 oder ein paar mehr werden in einem Jahr neu gegründet. Das bedeutet, daß

Menschen wandern müssen, von Betrieb zu Betrieb, von Region zu Region. „Mobilität" heißt das Schlagwort, Beweglichkeit, man könnte auch sagen: Bereitschaft, dem Geld nachzulaufen. Das liegt uns in Mitteleuropa nicht unbedingt. Es ist eben nicht alles Gold, was glänzt.

• Es gibt Phasen des Aufschwungs und Phasen des Ab-schwungs. Im Aufschwung müssen wir bereit sein, zurückzuschalten, einzuschränken. Wir haben im Uberfluß vergessen zu teilen. Brot zu teilen, Geld zu teilen, Zeit zu teilen. Es ist untragbar, daß die einen voll beschäftigt, die anderen arbeitslos sind.

• Industrialisierung bedeutet Handel mit der ganzen Welt, Ausfuhr und Einfuhr. Wir können uns nicht mehr die Dinge allein richten, wir müssen mit möglichst vielen fremden Ländern reden.

Wir müssen auch wissen, daß wir zum reichen Norden gehören, der den armen Süden ausnutzt. Eine Weltwirtschaftsordnung muß kommen. Kein Mensch weiß noch, wie sie eines Tages wirklich aussehen und funktionieren kann. Auf lange Sicht haben wir aber nur die Wahl zwischen einer gerechteren Ordnung oder furchtbaren Kriegen.

• Wo das Industriesystem zwischendurch gut funktioniert, schenkt es uns viel freie Zeit. Auf die ganze Lebenszeit umgelegt, arbeiten wir schon jetzt nicht mehr als drei Stunden pro Tag.

Wir haben für die Arbeit Tugenden entwickelt wie Fleiß, Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit. Für unsere freie Zeit brauchen wir auch dringend welche. Die Möglichkeit, sich jeden Tag sinnlos zu besaufen, ist ein schwaches Resultat von Industrialisierung.

Zeit zum Leben haben, zum eigenen Leben, persönlich leben, seine Lebenszeit nicht totschlagen, sich nicht selber totschlagen, fähig und bereit sein, bewußt zu leben, sinnvoll zu leben, das alles ist für unser Uberleben genauso notwendig geworden wie Hunger und Durst zu stillen.

Der Autor ist VP-Kulturlandesrat in der Steiermark. Der Beitrag ist entnommen aus „politicum-Josef Krainer Haus Schriften", Nr. 16/Juli 1983.

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