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Zurück zur Weltanschauungspolitik?

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Der Schweizer Historiker J. R. v. Šalis spricht von der Gegenwart als einer Zeit, „in der jeder die Weltgeschichte in seiner Stube hat”. Wir sind in der Tat heute mehr denn je mit der Welt und ihren Widersprüchen konfrontiert. Im „Globalen Dorf” McLuhans flimmern Mondlandungen und Dschungelkämpfe, Überfluß und Hunger über den gleichen Bildschirm. Zu den drei Fundamentalwidersprüchen unserer Zeit zählt neben dem technologischen und politischen nicht zuletzt ein geistiger: In einer wertverwirrten Gesellschaft stellt sich drängender denn je die Frage nach den Werten, die politischen Entscheidungen als gültige Maßstäbe dienen können.

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Der Schweizer Historiker J. R. v. Šalis spricht von der Gegenwart als einer Zeit, „in der jeder die Weltgeschichte in seiner Stube hat”. Wir sind in der Tat heute mehr denn je mit der Welt und ihren Widersprüchen konfrontiert. Im „Globalen Dorf” McLuhans flimmern Mondlandungen und Dschungelkämpfe, Überfluß und Hunger über den gleichen Bildschirm. Zu den drei Fundamentalwidersprüchen unserer Zeit zählt neben dem technologischen und politischen nicht zuletzt ein geistiger: In einer wertverwirrten Gesellschaft stellt sich drängender denn je die Frage nach den Werten, die politischen Entscheidungen als gültige Maßstäbe dienen können.

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Die christlich-demokratischen Parteien des europäischen Kontinents haben 1945 das geistige Gebot der Stunde erkannt. Sie haben das historische Verdienst, durch eine Politik der Versöhnung und der Solidarität, gemeinsam mit anderen politischen Kräften eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung wiedererrichtet zu haben. Ihnen ist es in erster Linie zu danken, daß im Westen die soziale Marktwirtschaft in Freiheit mehr Wohlstand hervorbrachte als der östliche Staatskapitalismus durch Zwang. Von der Programmatik der christlich-demokratischen Parteien ging eindeutig die Initiative zu einem Weiterdenken der Sozialpolitik in den Kategorien der Familienpolitik und der Förderung einer breitgestreuten Eigentumsbildung aus. Und nicht zuletzt wurde der erste Schritt zu einer wirtschaftlichen Einigung Europas von den großen christlichen Demokraten Schuman, de Gasperi und Adenauer getan.

Das geistige Gebot der Stunde des Jahreš’’i9?i zu effeMfeiA’^ižt sithėr schwieriger, als 1945. Aber es ist audfleein’Zufall,”3IB zu’ßeginh dieses Jahres die CDU in Düsseldorf einen Programmparteitag abgehalten hat, daß die Christlich-Demokratische Volkspärtei der Schweiz in diesen Tagen mit ihrem Vorentwurf eines neuen Programmes über die Parteigrenzen hinaus in der Öffentlichkeit ein starkes Echo findet und daß die österreichische Volkspartei sich darauf vorbereitet, nach den Bundespräsidentenwahlen den Entwurf eines neuen Grundsatzprogrammes in der Partei und in der Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen.

Die Frage „Entideologisierung oder Reideologisierung?” ist — vom Inhalt des Ideologiebegriffes einmal abgesehen — auf jeden Fall damit zu beantworten, daß das Bedürfnis nach einer nicht nur sach-, sondern auch wertorientierten Politik zunimmt.

Emanzipation vor dem Welthorizont

Das 1963 veröffentlichte Rundschreiben Johannes XXIII., „Pacem in terris”, besitzt Aufforderungscharakter für alle Christen, vor einem Welthorizont in den Perspektiven der Menschheitsfamilie und der drei großen Emanzipationsbewegungen der Arbeiter, der Frauen und der jungen Völker zu denken. Jede weltanschauliche Politik muß heute von der Tatsache der globalen Konfrontation politischer Ideen ausgehen. Zu den tragenden politischen Ideen dieser Welt gehört nach wie vor eine Politik aus christlicher Verantwortung. Zu den politischen Ideen, die die Welt bewegen, gehören aber auch immer neue Abwandlungen des Marxismus. In der dritten Welt besitzt angesichts der bitteren Not und der zur Problembewältigung oft ungeeigneten politischen Strukturen das Versprechen einer revolutionären Abkürzung des Entwicklungsprozesses eine nicht zu unterschätzende Attraktivität. Der Maoismus predigt die Weltrevolution in der neuen Form des Kampfes der „weltpolitischen Dörfer gegen die weltpolitischen Städte”. Nur auf einzelnen Außenposten — wie etwa in Chile als stärkste und in Venezuela als zweitstärkste Parlamentsfraktion — erfüllen christlich-demokratische

Parteien den Gestaltungsauftrag für diesen Teil der Welt.

In bedeutenden Industriestaaten, wie zum Beispiel in Nordamerika, gibt es keine programmatische Konfrontation unter den Vorzeichen „christlich-demokratisch” und „sozialistisch”. Im Nachkriegseuropa haben sich bisher im wesentlichen fünf demokratische Regierungsmodelle entwickelt:

• Der Wechsel in der Führung der Regierung zwischen der Konservativen Partei und der Labour-Partei in Großbritannien.

• Die sozialistische Führung der Regierungsgeschäfte bei aufgesplitterter bürgerlicher Opposition wie in den meisten skandinavischen Staaten.

• Die christlich-demokratische Führung der Regierungsgeschäfte in Koalition mit anderen Parteien wie bis 1966 in Österreich, bis 1969 in der Bundesrepublik und nach wie vor in Italien und Belgien.

• Die sozialistische Führung der Regierungsgeschäfte gegen starke christlich-demokratische Parteien in? der Opposition wie seit 1969 in der Bundestėjimblik duTöff ‘‘ elfte*”kleine’ Koalition und seit 1970 in Österreich durch eine Minderheitsregierung.

• Die Beteiligung christlich-demokratischer Parteien an Koalitionen oder Proporzregierungen wie in den Niederlanden und in der Schweiz.

Um die gesellschaftliche Mitte

Programmatisch haben die sozialistischen Parteien der Bundesrepublik und Österreichs mit dem Godesberger und dem Wiener Programm den Kampf um die gesellschaftliche

Mitte eröffnet. Das alte Motto „Demokratie der Weg — Sozialismus das Ziel” wurde durch die neue Praxis „liberal reden und sozialistisch handeln” ersetzt. Für diese Politik stehen Praktizisten wie der bereits abgewählte Wilson, der gegen den „Genossen Trend” kämpfende Brandt und Kreisky. Diese Praktizisten suchen den Erfolg auf neuen Wegen, haben ihrer Ideologie aber keineswegs abgeschworen. Inzwischen sind die sozialistischen Parteien aber auch schön eindeutig vor die Alternative gestellt, die der M’üfftäfher’ iSPD-öb’ef Bürgermeister Vogel als jene zwischen „revolutionärer Kaderpartei” und „linker Volkspartei” bezeichnet.

Es sind aber auch die christlichdemokratischen Parteien in der Bundesrepublik und in Österreich vor eine Alternative gestellt: Sie können in der Opposition zu bürgerlichen Kontrollparteien schrumpfen oder zu neuprofilierten Volksparteien einer fortschrittlichen Mitte wachsen. Daraus die Frage abzuleiten, ob eine moderne christlich- demokratische Volkspartei nun ihren

Platz weiter rechts oder weiter links finden soll, wäre allerdings grundlegend falsch; für sie gilt im besonderen Maße das eindrucksvolle Wort aus der letzten Silvesteransprache von Kardinal Dr. König: „Wir glauben an diesen Weg der Mitte auch im Staat, zwischen erstarrten demokratischen Former, auf der einen Seite und der Zersetzung aller gesellschaftlichen Strukturen auf der anderen Seite — wir glauben an diese Mitte, die aber immer vorne liegt. Es ist nicht eine statische, sondern eine dynamische Mitte, der Vergangenheit verbunden, aber in die Zukunft schreitend.”

Das Denken einer modernen Volkspartei kann nicht konservativer sein als der Reformkonservative Edmund Burke vor eineinhalb Jahrhunderten, von dem der Satz stammt: „Ein Staat, dem es an allen Mitteln zu einer Veränderung fehlt, entbehrt die Mitteln zu seiner Erhaltung.” Ihr Denken kann aber auch nicht so reaktionär sein wie jene fälschlich sogenannten Progressiven, die mit dem Lösungsmuster „Viele Vietnams” fortgeschrittenen Ländern die Revolution von gestern mit den Konsequenzen der Anarchie und der Diktatur empfehlen.

Wir müssen Errungenschaften wie die parlamentarische Demokratie, den Rechtsstaat, Freiheit von Wissenschaft und Lehre und die soziale Partnerschaft bewahren und gleichzeitig neue Denkmodelle und Zukunftsentwürfe zur Diskussion stellen, denn die Demokratie erfüllt sich erst durch die Möglichkeit, auf friedlichem Wege auch tatsächlich Veränderungen herbeizuführen.

Wählbar durch moderne Problemlösungen

Für die österreichische Volkspartei besteht gerade in der Opposition die Notwendigkeit, sich als eine in ihrer Politik an Grundsätzen orientierte und zu praktischen Problemlösungen fähige Partei zu profilieren. Die wachsende Zahl mobiler Wähler will Leistungen sehen, will aber auch die Gewißheit haben, daß hinter diesen Leistungen nicht nur Geschicklichkeit, sondern eine klare Vorstellung von einer neue Gestalt annehmenden Gesellschaft steht. Nur wenn wir beide Voraussetzungen erfüllen, wer-

den wir die Verantwortung für die Zukunft des Staates wieder in höherem Maße übertragen erhalten. Wir müssen der jungen Generation, den Familien, dem Angestelltenmittelstand, den Leistungswilligen und an der eigenverantwortlichen Gestaltung ihrer Zukunft Interessierten und den quer durch alle Schichten der Bevölkerung gehenden Problemgruppen der an ihrer Bildung und ihrer Gesundheit Interessierten Antwort äuf die Frage geben, wie wir uns das Österreich von morgen vorstellen.

Wenn eine neue Linke versucht, das durch den Wohlstand naß gewordene Pulver des Klassenkampfes auf dem Feuer neuer, oft jenseits unserer Grenzen liegender Probleme zu trocknen und wieder explosiv zu machen, dann sind wir herausgefordert, die Lösung der Widersprüche der Welt und unserer Gesellschaft aus der Inspiration eines christlichen Menschenbildes und« durch das Modell einer partnerschaftlichen Gesellschaft zu versuchen. Wir werden das zum Unterschied von den Marxisten aller Spielarten jedoch nie durch eine Alleinvertretungsideologie tun, sondern unter Respektierung des Pluralismus unserer Gesellschaft und des demokratischen Leistungswettbewerbs zwischen ihren politischen Ideen.

In der politischen Praxis der Opposition bedeutet die Programmdiskussion in einer hündische und föderalistisch gegliederten Volkspartei, die sich zur Meinungsvielfalt in ihren eigenen Reihen bekennt, kein Sich- auseinanderreden, sondern im Gegenteil das Ausdiskutieren des gemeinsamen geistigen Nenners, die Verstärkung der Klammer gemeinsamer Überzeugungen, die gemeinsam mit einer starken Führung die Einheit der Partei sicherstellt.

Im Mittelpunkt einer Grundsatzdiskussion wird der Stellenwert der menschlichen Persönlichkeit in der modernen Gesellschaft stehen müssen. Dieser Stellenwert ist für uns ein anderer als für die Sozialisten. Der mündige Mensch ist für uns mehr als ein Knoten im immer engmaschiger werdenden Netz sozialer Wechselbeziehungen. Unser Menschenbild verlangt, daß der Person in ihrer Freiheit und Würde und mit ihrem Willen zu Eigenverantwortung, Leistung und Initiative in der modernen Gesellschaft die Möglichkeit zur Entfaltung geboten wird. Wenn man dem Menschen auf der einen Seite Risken abnimmt, soll man auf der anderen Seite auch wieder neue Aufgaben stellen. Es kann nicht nur immer Verantwortung nach oben abgegeben werden, es muß auch immer wieder Verantwortung von oben nach unten delegiert werden, soll unsere Ordnung eine demokratische bleiben. Letzten Endes wird der Mensch den Sinn seines Lebens nicht allein im materiellen Wohlstand finden, sondern vor allem dadurch, daß er einer Sache dient und für andere Menschen da ist. Nicht das Ameisendasein im Kollektivismus kann zur Überwindung der „Eindimensionalität” des Menschen führen, sondern nur die politische Mündigkeit in einer partnerschaftlichen Gesellschaft.

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