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Gesinnung nicht mehr unmodern

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Aber es sind nicht nur Männer, es sind auch neue Probleme, die das Gespräch beherrschen: Nicht nur das Schlagwort von der „Entwicklungshilfe", nicht nur die in allen Nuancen geführte europäische Integrationsdebatte, nicht nur die mehr oder minder hilflose Analyse dessen, was denn nun Chruschtschow demnächst tun „könnte“. Das alles kann man ja im heutigen Europa praktisch zu jeder Stunde hören. Wer mit einem Zauberteppich die entsprechenden Entfernungen zwischen Palermo und Stavanger, Brighton und Fulda in Minutenschnelle überwinden könnte, der würde wohl zu jedem beliebigen Augenblick irgendwo in Westeuropa ein Kongreßforum ausfindig machen, das sich — in Gehaben und Sprechweise der jüngeren Delegierten kaum voneinander unterschieden — über irgendeines dieser Themen verbreitert. Kein Zweifel und keine Beschönigung: Auch die christlichen Demokraten sind ebensowenig wie die demokratischen Sozialisten, die Liberalen, Konservativen oder wer immer davor gefeit, in diese Routine der Resolutionen und Bankette, Sekretariatssitzungen und Festansprachen abzuschwimmen.

Das Merkwürdige und durchaus Positive dieser Herbsttage von Luzern lag nun aber darin, daß man diese innere Gefahr wenn schon nicht überall klar erkannte, so doch zumindest verspürte. Die Besinnung auf die Doktrin, die geistige Grundlage der christlichen Demokratie, die „Rückkehr zum alten Feldzeichen“, wie es ein österreichischer Delegierter in Auslegung eines Wortes von Macchia- velli ausdrückte: das war nicht nur ein willkürlich gewähltes Kongreßmotto, ein Anlaß für obligate und verrauschende Referate. Es brannte den Männern, und gerade den verantwortlichen Politikern unter ihnen, vielleicht am meisten auf den Nägeln.

Hatte es in den vergangenen fünfziger Jahren zuweilen so ausgesehen.

als ob Beschäftigung mit Theorie und Ideologie eine lächelnd geduldete Freizeittätigkeit abgedankter Politiker oder besoldeter Leitartikler sei, dieweil sich die wirklich „Regierenden“ mit den Fragen der aktuellen Politik, ihren Kompromissen, Koalitionen und manipulierbaren Wählerprozenten herumschlugen, so zeigte die Zwischenbilanz dieses Kongresses die christliche Demokratie der begonnenen sechziger Jahre in einer wesentlich anderen Situation. Sie trägt in jedem Land andere Einzelzüge. Aber gewisse gemeinsame Grundlinien treten so deutlich hervor, daß der in der Situationsdarstellung des Direktors des neuen christlich-demokratischen Studienzentrums von Rom, Dr. K. J. Hahn, vertretene Gedanke einer formulierten Gemeinsamkeit des allen verbindlichen Programms nicht mehr so utopisch erscheint, wie noch vor wenigen Jahren.

Profil durch Abgrenzung

Da ist zunächst einmal das Bedürfnis nach einer starken und eindeutigen

Profilierung. Sie ist nicht möglich, ohne eine Abgrenzung nach links und nach rechts. Man kann sehr schön im Theoretischen jonglieren und diese alten politischen Richtungsbegriffe wegdisputieren. In der Praxis beweisen sie ihre handfeste Zählebigkeit. Kaum eine europäische Partei, die dieses Problem nicht kennt:

Da sind einmal die Franzosen. Der MRP-Abgeordnete S e i 11 i n g e r ist der Generalsekretär der Union. Ein Lothringer von der fundierten, aber alles andere als konservativen Katiio- lizität dieses Stammes. In einem langen Gespräch versucht er, uns das Problem der christlichen Demokraten Frankreichs zu erläutern: Es geht ihnen darum, die pessimistisch-lähmende Alternative zu überwinden, die da heißt: Nur de Gaulles ewiges Leben verhindert den offenen Faschismus und in dessen logischer Folge die kommunistisch geführte Volksfront. Die Männer des MRP können sich an keinem Abenteuer des linken oder gar des rechten Anti-Gaullismus beteiligen, sie wollen es auch in der Mehrheit nicht, aber sie dürfen im Einheitsbrei des Massen-Gaullismus ihr eigenes Gesicht nicht verheren. Sie müssen sich bereithalten für die Stunde darnach.

Nicht unähnlich sieht es bei den Belgiern aus. Der Premierminister des Landes, Theo L e f ė v r e, der auch in seiner Regierungsfunktion Präsident der Union blieb, hat seine Koalition mit den Sozialisten gegen den Widerstand einer reaktionären Clique durchgesetzt, deren Einfluß nicht nur an den Königshof, sondern bis in die Reihen der Christlichen Partei hineinreicht. Wenn er mit zurückgehaltener Erregung in den Saal ruft, daß unsere Gesellschaft die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem sich neu formierenden schwarzen Kontinent nicht von der Basis der liberali- stischen Profitwirtschaft aus bestehen kann, dann Zittert hier’ die unmittelbare Erfahrung dės Kongöjahres nach. Auch in Belgien muß die Gleichsetzung von christlich und bürgerlich im alten Sinn überwunden werden, ohne daß die Partei nach links abrutscht.

Bei den Holländern gibt es drei christliche Parteien, von denen eine katholisch, die beiden anderen durch unwesentlich gewordene historische Nuancen getrennt, erklärt protestantisch im calvinistischen Sinn sind. Daß dies nicht nur eine konfessionelle Problematik darstellt, sondern auch die für mögliche Koalitionen maßgebliche Auffassung in der Wirtschafts- und Eigentumspolitik beeinflußt, liegt auf der Hand.

Die Schweizer Partei nennt sich zugleich konservativ und christlich- sozial. Sie trägt noch heute fast rein katholische Züge. Aber auch sie muß ihr im Grunde bürgerliches Konzept in mühsamer Kleinarbeit von der allgemeinen liberalen Bürgerlichkeit des heute konfessionell lässig-tolerant gewordenen Freisinns abgrenzen. Sogar ein Kontakt mit den überzeugten Protestanten bahnt sich dabei an.

Aber auch bei den Deutschen hat sich seit der Wahl vom 17. September manches geändert. Man erkennt in der CDU/CSU, deren Delegierte auf dem Luzerner Kongreß auffallend still und zurückhaltend blieben, daß gerade die unvermeidliche Zusammen-

arbeit mit einem wirtschaftsliberalen Koalitionspartner, der in sich selbst uneins und von geradezu antagonistischen Gegensätzen zerrissen ist, die Herausarbeitung des eigenen Profils zur Existenzfrage werden läßt. Es liegt in der Natur der politischen Gewichtsverteilung, daß diese Aufgabe der ideologischen Gesichtsformung mehr denn je dem linken Flügel der Partei zufallen wird, der allerdings in den vergangenen golden-gemächlichen Jahren Adenauers kaum viel Gelegenheit erhielt, sich an dieser gesamtparteilichen Mission zu erproben.

Keine alten Arsenale

Stellt man dieses für fast alle Parteien der christlichen Demokratie geltende Bestreben nach Profilierung und Abgrenzung fest, so darf man ein zweites Phänomen natürlich nicht übersehen: Nirgends wird Grundlagenbesinnung mit Historizismus verwechselt. Für keinen denkenden Politiker dieses Lagers kann „Rückkehr zum Feldzeichen“ soviel heißen wie „Rückkehr zur Kriegsführung von einst“. Man leugnet nicht, daß es in der heutigen Welt hoch die Begriffe „rechts“ und „links“ gibt. Und man redet sich nicht selbst bequem ein, diese eben einmal vorhandenen Fronten überspielen zu können. Aber man ist der Überzeugung, daß es eine wirkliche Überwindung geben kann.

Die illusionären Optimisten christlicher Politik glauben, daß es schon heute „so weit“ ist und daß man nur mit vollen Segeln in der bürgerlichen Prosperitätswoge Kurs halten müsse.

Die ebenso illusionären Pessimisten der gleichen Politik glauben, daß es niemals anders werden könne und daß christliche Politik nur im Schmollwinkel der konservativen Traditionspflege möglich sei.

Beide Doktrinen landen in der Irre. Nach der ersten Richtung muß die christliche Demokratie immer mehr an Gesicht verlieren und mit einem Grundsatz nach dem anderen sich selbst preisgeben. Nach der zweiten aber gerät sie nicht nur in den Nachtrab der Geschichte. Sie verweigert auch der gesamten europäischen Gesellschaft jenen spezifischen Beitrag, den allein das Christentum gerade bei der Lösung jener Probleme geben kann, die in einer neuen Welt vor uns allen stehen.

Der Prozeß, zwischen diesen Extremen nicht den Mittelweg farbloser Mittelmäßigkeit, sondern den Höhenweg zwischen den beiden Niederungen der Politik zu finden, ist bei fast allen christlich-demokratischen Parteien in Gang gekommen. Es waren genügend Österreicher als Delegierte in Luzern. Sie alle konnten hören — und haben sehr aufmerksam gehört — wohin heute die Markierungen christlicher Demokratie weisen.

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