6814996-1973_03_11.jpg
Digital In Arbeit

Zweimal Pasolini

Werbung
Werbung
Werbung

Pier Paolo Pasolinis Verfilmung von Geoffrey Chaucers „Canterbury Tales“ — genauer gesagt enthält der Film acht der insgesamt 21 vollendeten Geschichten — wurde bei den vorjährigen 22. Internationalen Berliner Filmfestspielen mit dem Hauptpreis, dem „Goldenen Bären“, ausgezeichnet und Arthur Hillers hektische Horror-Satire „Hospital“ erhielt ebendort einen Sonderpreis der Jury, einen „Silbernen Bären“; nun laufen — zufällig — beide Filme zur gleichen Zeit in Wien an, und wir können uns nun mit eigenen Augen davon überzeugen, wie weit der Skandal, den diese Preisverleihung in Berlin auslöste, berechtigt war.

In Hillers amerikanischem Krankenhausreport wird eine chaotische Hölle entfesselt, die eher verwirrt als schockiert: zu sehr überdreht wirkt diese Kritik an wohl möglichen und schon öfter vorgekommenen, aber in dieser Zusammenballung wohl outrierten Mißständen des Spital- und Krankenkassenwesens in den USA, die Paddy Chayefsky mit kaum erträglichem, sehr anglo-ame-rikanischem Zynismus vor den Zuschauern aufrollt; da zitiert er ein ganzes Inferno, alle Sünden Amerikas, Elend, Impotenz und faulige Dekadenz einer überreifen Gesellschaft werden vorgeführt, um Entsetzen hervorzurufen, das spätestens bei dem dritten, „versehentlich“ ins Jenseits gebrachten Patienten zur Groteske umschlägt. So wird die gegenteilige Wirkung erzielt — und man wünscht schließlich, in allen Spitälern gäbe es einen solchen Chefarzt wie den so? überaus tüchti-> gen Dr. Bock, der, von George C. Scott in einer oscarreifen, fast genialen schauspielerischen Leistung dargestellt, länger in Erinnerung bleiben wird als alle Krankenhaus-Schrecken dieses seltsamen Films ...

Als zweiter Teil einer Trilogie — nach seiner „Decamerone“-Verfil-mung — hat sich Pier Paolo Pasolini nunmehr von Chaucer inspirieren lassen und dessen unvollendeten Zyklus von Versnovellen aus dem Jahre 1400 in üppige, vor Lebenslust berstende Bilder umgesetzt; und da auch die „Canterbury Tales“ literarisch von Boccaccio — und nicht nur dessen Stil — beeinflußt sind, mag man auch Pasolinis Beeinflussung von seinem „Boccaccio“ verstehen. Es ist ja auch mehr oder weniger dieselbe Epoche, die Grenze zwischen spätem Mittelalter und Renaissance, deren vitale Sinnlichkeit und Derbheit auoh heute noch kaum bekannt und verstanden ist. So — die Grenzen des erträglichen Geschmacks des Zuschauers manchmal überschreitend, aber (so man imstande ist, sich von Äußerlichkeiten loszulösen) dennoch von hohem ästhetischen Reiz in der Bildkomposition — entfaltet sich in „Pasolinis tolldreisten Geschichten“ ein zeitlos menschliche Schwächen darstellendes buntes Leben und Treiben, durch das der Regisseur selber führt; daß er in einer Erzählung ausführlich Chaplin zitiert, und zwar mehrere seiner Filme, sollte zu denken geben — ebenso das Urteil der Jury, die ihm den Preis zuerkannte „für die Meisterschaft und Vitalität, mit denen er große Literatur in das Medium des Films umzusetzen gewußt hat.“ Wie verfilmt man Chaucer — anders?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung