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Großer Kummer mit kleiner Kammer

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Das jetzige Oesterreich wird oft als ein „Kammerstaat“ bezeichnet, als ein Staat, in dem die einzelnen Kammern, wie Arbeiterkammer, Bauern- und Wirtschaftskammer, die Kammer für Gewerbe und Industrie, die Gewerkschaft usw., einen bedeutenden, aber durch die Oeffent-Iichkeit nicht immer kontrollierbaren Einfluß auf die politischen Geschicke des Landes nehmen. Von einer Kammer in Oesterreich kann weder das eine noch das andere behauptet werden: von der zweiten Kammer des österreichischen Parlamentes, die offiziell nach der Verfassung von 1929 „Länder- und Ständerat“ heißt, aber aus nicht ganz ersichtlichen Gründen immer nur „Bundesrat“ genannt wird.

Das österreichische Parlament besteht aus zwei Kammern: dem Nationalrat und dem Bundesrat. Eine Einrichtung, die sich in vielen Staaten wiederfindet. Während aber in fast allen Staaten, die eine zweite Kammer besitzen, besonders in der Schweiz, in den USA, in Großbritannien, diese eine eminente politische Bedeutung besitzen, spielt der österreichische Bundesrat praktisch überhaupt keine politische Rolle.

Wie schon der verfassungsmäßige Name des Bundesrates, „Länder- und Ständerat“, sagt, sollte es die Aufgabe der zweiten österreichischen Kammer sein, die besonderen Interessen der Bundesländer zu vertreten und von da aus einen wesentlichen Einfluß auf die österreichische Politik zu nehmen. Diese Rolle ist dem Bundesrat verwehrt, zu spielen, da er so gut wie keine politischen Rechte besitzt, wozu noch erschwerend hinzukommt, daß seine Zusammenstellung falsch ist.

Die österreichische Verfassung zählt genau die Rechte auf, die Oesterreichs zweite Kammer besitzt, und wer diese Aufzählung liest, wird sich eines wehmütigen Lächelns nicht erwehren können.

Die Rechte des „Bundesrates“ sind folgende: Er darf mit dem Nationalrat zusammen der

Angelobung des Bundespräsidenten beiwohnen.

Das ist sehr schön, aber politisch von gar keiner Bedeutung.

Er darf die Einberufung einer gemeinsamen Sitzung mit dem Nationalrat verlangen, damit dort die Anklage auf Bruch der Verfassung gegen den Bundespräsidenten erhoben wird. Ein Fall, der sich — hoffentlich — nie ereignen wird.

Er darf in gemeinsamer Sitzung mit dem Nationalrat eine Kriegserklärung beschliefsen. Wieder ein Fall, dessen Eintreten an sich unwahrscheinlich ist, wenn er nicht obendrein noch durch die seit 1955 bestehende Neutralitätsverpflichtung Oesterreichs ganz ausgeschlossen wäre.

Er darf einen Antrag auf Cesamtveränderung der Verfassung stellen. Es ist gleichfalls unwahrscheinlich, daß das jemals eintreten könnte.

Er darf verlangen, daß die Bundesregierung oder einzelne ihrer Mitglieder seinen Sitzungen beiwohnen. Ein schönes Recht, aber leider zieht es keine Konsequenzen nach sich. Denn wohl muß der Bundesrat die Regierung anhören, aber nirgends steht, daß die Regierung oder ein Minister den Debatten des Bundesrates folgen muß. Ein Minister, der den Sitzungen des Bundesrates beiwohnt und vielleicht einschläft, kann höchstens indirekt durch hitzige Debatten, aber sonst nicht aufgeweckt werden.

Er darf gegen Gesetze, die der Nationalrat beschlossen hat, innerhalb acht Wachen Einspruch erheben. Wer dieses Recht untersucht, wird darauf kommen, daß es nicht einmal bescheiden genannt werden kann. Denn wenn schon der Bundesrat innerhalb der vorgeschriebenen Frist sein Vetorecht geltend macht, dann geht zwar das Gesetz zum Nationalrat zurück, der aber kann ohne weiteres einen sogenannten „Beharrungsbeschluß“ fassen, und das Gesetz tritt trotz Veto des Bundesrates in Kraft. Wie bescheiden dieses Recht aber erst ist, ersieht man daraus, daß der Bundesrat nicht einmal gegen alle Gesetze des Nationalrates dieses winzige Veto geltend machen kann: denn dem Bundesrat ist jede Einflußnahme auf den Staatsvoranschlag und den Rechnungshofbericht entzogen. Er hat ein einziges absolutes Veto und dieses stellt auch sein einziges wirkliches Recht dar: Gesetze, die seine Zusammensetzung ändern oder gar seine Existenz aufheben wollen, können nur mit seiner Zustimmung wirksam werden. Es ist ein Veto, das einen Mord oder eine arge Verstümmelung wenigstens verhindert.

Drei wichtige Rechte besitzt Oesterreichs „kleine Kammer“ nicht: Der Bundesrat darf keine Initiativanträge stellen. Das heißt, er kann keine Gesetzesahträge stellen, über die der Nationalrat verhandeln muß. Wohl kann er der Bundesregierung oder dem Nationalrat Gesetzentwürfe zuleiten. Doch kann das in Oesterreich in dieser Form jeder Kegelklub und jeder Briefmarkensammlerverein. Politisch hat dies keine Folgen, denn weder die Bundesregierung noch der Nationalrat müssen von diesem Antrag 'Kenntnis nehmen, sondern können ihn gleich in den Papk.'corb werfen. Nicht einmal eine simple Empfangsbestätigung muß dem Bundesrat zugeleitet werden.

Der Bundesrat darf sich nicht mit dem Bundesvoranschlag beschäftigen. Das heißt, es ist ihm die Obsorge um Interessen ersten Ranges verwehrt.

Der Bundesrat darf sich nicht mit dem Bericht des Rechnungshofes beschäftigen, der allein dem Nationalrat untersteht und ihm Rechenschaft schuldig ist. Das heißt, es ist ihm verboten, über eine wichtige Kontrolle öffentlicher Mittel zu wachen und daraus Folgerungen zu ziehen und Forderungen - stellen.

Die wichtigste Funktion — allerdings inoffiziell —, die der heutige österreichische Bundesrat, der einmal unschön als „Blinddarm des Natio-tionalrates“ bezeichnet wurde, ausübt, ist der einer „camera caritatis“: er gibt den Parteien die Mittel und Möglichkeit, ihren verdienten Politikern, denen sie noch nicht oder derzeit nicht oder nicht mehr ein Mandat im Nationalrat oder, überhaupt keine wichtige politische Position verschaffen kann, einen.Titel und Diäten zuzuteilen.

Diese „camera caritatis“ kommt allerdings teuer zu stehen, denn Oesterreichs zweite Kammer kostet jährlich mehr als drei Millionen Schilling, da ja jeder der 50 Bundesräte (aktive Bundesminister sowie Angehörige der Landesregierungen ausgenommen) monatlich rund 5000 Schilling dreizehnmal pro Jahr und steuerfrei, erhält. Eine Ohnmacht, die teuer bezahlt wird. Vor allem aber ist es bedauerlich, daß die bedeutenden Köpfe, die der Bundesrat besaß und besitzt (z. B. Dr. Körner, Dr. Rehrl, Dr. Ender, Dr. Kolb) von dieser politischen Ebene aus keinen Einfluß auf den Gang der Geschicke nehmen konnten und können.

Eine Reform des Bundesrates, der in seiner jetzigen Gestalt weder ein echter Vertreter der Landesinteressen se'n kann noch überhaupt die Funktion einer zweiten Kammer ausüben darf, wäre längst fällig. Bis 195 5, bis zum Staatsvertrag, war eine solche praktisch undurchführbar. Denn ein solches Gesetz hätte als Verfassungsgesetz der einhelligen Zustimmung des Alliierten-Rates bedurft, der sie wahrscheinlich verweigert hätte. Heute gilt diese Ausrede aber nicht mehr, und eine Reform könnte endlich in Angriff genommen werden.

Diese Reform müßte zwei Wege beschreiten: erstens müßte die Zusammensetzung geändert werden, und zweitens müßte der Bundesrat echte Rechte erhalten.

Die heutige Zusammensetzung des „Bundesrates“ ist nicht richtig.

Bei einer echten Länderkammer müßten die einzelnen Länder als politische Individualitäten gewertet werden — und die österreichischen Länder haben es in der Geschichte bis zu 1918 und 1945 herauf bewiesen, daß sie es wirklich sind. Das aber würde bedeuten, daß jedes Land, gleichgültig wie groß oder wie klein, durch gleich viele Abgeordnete vertreten wird. Dieses Prinzip herrscht für den „Ständerat“ der Schweiz und den Senat der USA. Beim heutigen österreichischen Bundesrat werden die Länder teils als Individualitäten gewertet, teils wird aber doch auf ihre Größe Rücksicht genommen. Was herauskam, ist ein echt österreichisches Kompromiß, das der Bundeshauptstadt Wien zwölf Mandate, Vorarlberg, Kärnten, Salzburg, Tirol je drei, den übrigen Ländern aber weniger als zwölf und mehr als drei zuwies.

Der erste Schritt zur Reform bestünde darin, daß jedem österreichischen Land gleich viele Mandate zufallen müßten, zwei oder drei oder vier oder gar fünf (in der Schweiz und den USA hat jedes Land das Recht auf zwei Mandate in der zweiten Kammer, diese Zahl wäre für Oesterreich mit seinen neun Bundesländern zuwenig, am besten wären pro Land fünf Vertreter, dann wäre der neue Bundesrat nur um fünf Sitze gegenüber dem heutigen verringert).

Erst durch eine solche Zusammensetzung könnte dem Zentralismus des Nationalrates ein entsprechendes föderalistisches Gegengewicht durch den Bundesrat gegenüberstehen.

Der zweite Schritt zur Reform müßte darin bestehen, dem Bundesrat echte Rechte zu verleihen. Er müßte vor allem ein wirkliches Vetorecht erhalten. Das heißt, Beschlüsse des Nationalrates, gegen die der Bundesrat ein Veto einlegt, müßten für längere Zeit — ein halbes oder ein ganzes Jahr — zurückgestellt werden. Darnach müßte der Nationalrat neuerlich darüber beraten und abstimmen.

Der Bundesrat müßte ferner das Recht haben, Gesetzesanträge zu stellen, über die der Nationalrat beraten und abstimmen muß. (In der Schweiz kann jeder der beiden Kammern Gesetze beschließen, die erst gültig werden, wenn die andere Kammer ihnen zustimmt.)

Der Bundesrat müßte ferner das Recht haben, über das Budget abzustimmen und zum Bericht des Rechnungshofes Stellung zu nehmen.

Die österreichische Innenpolitik hatte in den letzten Jahren so manchen Schnitzer zu verzeichnen. Wer weiß, durch welche Einflüsse heute oft Gesetze zustande kommen und in welcher Rasanz sie durch den Nationalrat gepeitscht werden (vor einigen Jahren wurden innerhalb von 14 Tagen 60 Gesetzesbeschlüsse durch den Nationalrat gefaßt), der wird sich darüber nicht wundern. Vielleicht wären viele dieser Mißgriffe vermieden worden, wenn eine zweite Kammer mit echten Rechten vorhanden gewesen wäre, die in solchen Situationen rettend und helfend 'eingetreten wäre. Die USA, die Eidgenossenschaft, das Vereinigte Königreich haben eine solche Kammer, die nicht zur Ohnmacht verurteilt ist. Das politische Leben dieser Länder ist dadurch nicht ärmer und nicht verworrener, sondern auch aus diesem Grund wahrscheinlich reicher und geordneter. Oesterreich kann diesem Beispiel nur folgen. Und mit dem großen Kummer wird auch mancher andere politische Kummer verschwinden.

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