Bora Ćosić - © Foto: Imago/gezett

Bora Ćosić: Ein wildes Kind Europas wird 90

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"Dass jedes Volk, und sei es das größte und gescheiteste, in sehr traurige Verhältnisse geraten kann, wenn seine Umsicht und Aufmerksamkeit nur einen Augenblick nachlässt“, weiß Bora Ćosić. Mehr als 30 Romane, Erzähl- und Essaybände hat er verfasst. Am 5. April feiert er seinen 90. Geburtstag.

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"Dass jedes Volk, und sei es das größte und gescheiteste, in sehr traurige Verhältnisse geraten kann, wenn seine Umsicht und Aufmerksamkeit nur einen Augenblick nachlässt“, weiß Bora Ćosić. Mehr als 30 Romane, Erzähl- und Essaybände hat er verfasst. Am 5. April feiert er seinen 90. Geburtstag.

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Als er 2002 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt, erzählte Bora Ćosić in seiner Dankesrede, dass er in den ersten Jahren seines Exils eine Schrift über Kaspar Hauser verfasst habe – denn es kam ihm so vor, als wäre er von der Geschichte nach Berlin geführt „und dort wie Kaspar Hauser mit einem Stück Papier in der Hand zurückgelassen worden. Dieses Papier war mein Manuskript, geschrieben in der Sprache eines fernen Volkes aus dem Süden, die vielen unverständlich ist. In diesem Moment hat mein Leben begonnen, das Leben eines wilden Kindes Europas, das, wenn auch schon recht alt, durch eine neue Welt wandelt und sich fragt, woher es kommt und wohin es will.“

Der 1932 in Zagreb geborene Schriftsteller studierte in Belgrad Philosophie, arbeitete als Redakteur sowie als Übersetzer aus dem Russischen. Mit Büchern wie „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ wurde er bekannt, seine Satiren brachten ihm Publikationsverbot ein. 1992 verließ Ćosić Miloševićʼ Serbien, ging nach Rovinj und später nach Berlin. Er habe eine Kaspar Hausersche Erfahrung, weil „mein Volk eine ganze Reihe von Jahren in jenem Stall zugebracht hat, abgeschlossen von der übrigen Welt, in ziemlichem Elend und geistig sehr zurückgeblieben. Und was das Schlimmste ist, diese Situation haben meine Mitbürger und ehemaligen Landsleute zum großen Teil selbst herbeigeführt, weil sie in dem Bemühen, so lange wie möglich dort, in der eigenen Abkapselung, zu verharren, mit eigenen Kräften die Gatter ihres Pferchs verschlossen haben.“ Diese Geschichte wird in der bereits 1998, nun auch auf Deutsch erschienenen Prosa „Operation Kaspar“ exemplarisch erzählt. Es gibt kein Happy End für das namenlose Paar, das den Stall verließ und mit leerem Koffer kam. Der Garten Eden wird durch Gewalt zerstört.

Zeugnis ablegen über das Leben im globalen Menschenstall, das will Ćosić mit seinen Texten, immer wieder. „Und so warte ich darauf, dass jemand lesen und schreiben kann und dann auch all das andere begreift, jenes Verlies unserer Geschichte, aus dem ich hervorgegangen bin. Nichts anderes erzähle ich in dieser Unverständlichkeit meiner literarischen Sprache, wenn ich den Stall des eigenen Seins beschreibe, manchmal in Form einer Mahnung. Dass jedes Volk, und sei es das größte und gescheiteste, in sehr traurige Verhältnisse geraten kann, wenn seine Umsicht und Aufmerksamkeit nur einen Augenblick nachlässt.“

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