Im Mutterschoß der Gottheit - © Foto: Unsplash

Geborgen im Mutterschoß Der Gottheit

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Das Bild der Verletzlichkeit, wie es sich für Christen in der Menschwerdung Gottes im Kind darstellt, findet sich in den meisten religiösen Traditionen der Menschheit.

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Das Bild der Verletzlichkeit, wie es sich für Christen in der Menschwerdung Gottes im Kind darstellt, findet sich in den meisten religiösen Traditionen der Menschheit.

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Raúl stand auf den Unterarmen und drückte langsam seinen Oberkörper hoch, sodass man die Muskelstränge in den Armen arbeiten sehen konnte. Dann eine rasche Bewegung, er kam auf die Füße, ein Salto aus dem Stand nach hinten, wobei er genau auf dem Ende des Teppichs landete, eine Verbeugung am Schluss - der 18-jährige Raúl ist ein Parkour-Fan. Alles in seiner Umgebung, Parkbänke, Zäune, Mauern, notfalls ein Wohnzimmer, kann Anlass für seine akrobatischen, grazilen Bewegungen sein. Der junge Mann ist stolz auf seine Fähigkeiten und trainiert täglich einige Stunden. Man kann sich kaum vorstellen, dass Raúl irgendwann alt und gebrechlich oder durch einen Unfall beeinträchtigt sein wird.

Doch Leben, und nicht nur das von Menschen, ist verletzlich, vergänglich, zerbrechend. Das ist die Erfahrung, die der sumerische Held Gilgamesch durch den plötzlichen Tod seines Freundes Enkidu macht. Enkidu war eine Art Super-Held, doch auch seine Kraft war zerbrechlich und endlich. Gilgamesch macht sich auf die Suche nach dem Kraut der Unsterblichkeit, findet es, aber verliert es wieder. Die Sterblichkeit der Menschen ist ein existenzielles Faktum für das viertausend Jahre alte Epos; der Psalm 103, wohl tausend Jahre später verfasst, klingt wie ein Echo darauf: Menschen - wie Gras sind ihre Tage, wie Wildblumen blühen sie auf. Da: ein Wind weht vorüber - weg sind sie, hinterlassen keine Spur.

In den Unbillen des Lebens

Menschen sind den Unbillen des Lebens ausgesetzt, aber auch dem bösen Willen ihrer Mitmenschen. Der Wunsch, Gott möge die Ungerechten strafen und den Gerechten zum Sieg verhelfen, ist ein Dauerthema in den Psalmen - und nicht nur da. In den Veden, den ältesten religiösen Texten Indiens, die in etwa so alt wie das Gilgamesch-Epos sind, heißt es ganz ähnlich, dass die einzige Zuflucht des Guten Gott ist, der die Gesetzlosen den Frommen ausliefern möge. Hier wird Indra, der Himmelsgott, angerufen, es könnte auch eine der anderen Gottheiten sein.

Die Bedrohung des Lebens durch Bosheit ist ein zentrales Thema der Hindu-Mythologie. Was sich auf den ersten Blick als traumartige, bunte Götter- und Dämonenwelt darstellt, erzählt bei genauerem Hinsehen von der Fragilität von Ordnung und Leben. Immer wieder bedrohen dämonische Kräfte die Welt, können aber mit menschlichen Mitteln nicht bezwungen werden. Nach der Hindu-Tradition verkörpert sich daher Gott Vishnu in verschiedensten Formen - als Fisch, als Eber, als Löwe, aber auch als eine Art apokalyptischer Reiter -, um die bedrohte Welt zu retten und die dämonischen Kräfte zu besiegen. Auch vielerlei Rituale sollen den zerbrechlichen Menschen helfen - etwa prasad, was wörtlich "Gnade“, "Barmherzigkeit“ bedeutet. Das sind Obst oder Speisen, die den heilenden Segen der Gottheit auf die Gläubigen übertragen.

Allerdings ist die menschliche Situation insgesamt oft schwer erträglich, weil vieles nicht wirklich zufriedenstellt. Dukkha nennt das der Buddha in seiner ersten Lehrrede; damit ist nicht "Leiden“ gemeint, sondern ein Ungenügen, das aus der Vergänglichkeit und Fragilität des Daseins kommt: Geburt ist dukkha, Altern ist dukkha, Krankheit ist dukkha, Tod ist dukkha; Kummer, Lamentieren, Schmerz und Verzweiflung sind dukkha. Gesellschaft mit dem Ungeliebten ist dukkha, das Gewünschte nicht zu bekommen ist dukkha.

Schutz des Lebens in ganzer Bandbreite

Nach dem Vorbild der Medizin seiner Zeit identifiziert der Buddha im zweiten Schritt den "Durst“, das "Begehren“ (tanha) als die Ursache, die alle Aspekte des Menschseins, das Körperliche genauso wie das Geistige erfasst. Die "Medizin“ besteht aus der Verbindung von Ethik, weiser Unterscheidungskraft und Meditation. Das inkludiert den Schutz des Lebens in seiner ganzen Bandbreite: Mönche waren oft auch Ärzte, die ersten Spitäler überhaupt erwachsen aus buddhistischer Motivation, und ein buddhistischer Herrscher wie König Ashoka ließ Brunnen, Brücken und Straßen bauen und verbot die damals üblichen Tieropfer.

Ahimsa, Gewaltfreiheit und Verzicht auf Töten ist ein Grundsatz, den alle indischen Traditionen miteinander teilen. Am radikalsten verwirklichen dies die indischen Jains, Angehörige einer Minderheiten-Religion, die älter als der Buddhismus ist. Ahimsa, Gewaltfreiheit, umfasst für die Jains auch den Respekt vor nicht-menschlichem Leben. Deswegen arbeiten sie z. B. nicht als Bauern, weil das Pflügen des Ackers Kleinstlebewesen tötet, also Leben verletzt.

Die "Gebärmutterhaftigkeit“ Gottes

In den jüdisch-christlich-islamischen Traditionen sind die Pole des Schutzes von Leben auf der einen Seite das Tötungsverbot, und Barmherzigkeit auf der anderen Seite. "Barmherzigkeit“ klingt für heutige Ohren nicht so gut - ist es doch mit feudalen Verhältnissen assoziiert, wo ein König schon mal Barmherzigkeit üben oder Gnade vor Recht ergehen lassen kann. Dieses Bild verbindet sich seit langem mit Bildern von einem strafenden Gott von zweifelhafter Gerechtigkeit. Dieses Gottesbild wird dann oft mit der Hebräischen Bibel (dem Alten Testament) und auch mit dem Koran assoziiert, und das Gottesbild des Neuen Testaments wird dann als Kontrastprogramm dazu entworfen. Da hilft es auch wenig, dass z. B. jede Sure im Koran anhebt mit der Anrufung Gottes, des Allerbarmers (ar-rahman) und Allbarmherzigen (ar-rahim),den beiden häufigsten Gottesnamen des Korans. Barmherzigkeit, hebräisch rahamim, ist die lebensschützende und lebensspendende Haltung schlechthin.

Denn rhm, gelesen rächäm, ist die Gebärmutter, der Mutterschoß, der lebensspendende Ort schlechthin. Gottes Barmherzigkeit oder "Gebärmutterhaftigkeit“ soll das Vorbild für menschliche Barmherzigkeit sein, darin ist sich die jüdisch-christlich-islamische Überlieferung einig. So ist das soziale Engagement für Kranke, Arme und Außenseiter unverzichtbarer Teil der religiösen Praxis, im Islam gehört die Fürsorge für die Schwachen sogar als zakat, als "Almosensteuer“ zu den fünf Grundsäulen des Glaubens. In einem Hadith, einem vom Propheten Mohammed überlieferten Wort, heißt es: Diejenigen, die nicht barmherzig sind, werden keine Barmherzigkeit erlangen.

Wie tief der Schutz des Lebens in seiner Verletzlichkeit geht, lässt sich in der jüdisch-christlichen-islamischen Tradition an der Geschichte von der "Opferung des Isaak“ zeigen. Die Geschichte ist in Bibel und Koran zu finden: Abraham erhält von Gott den Auftrag, seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern, macht sich auf den Weg zur Opferstätte, wird aber im letzten Moment von der Tötung des Sohnes durch einen Engel Gottes abgehalten. Gewöhnlich wird der Abraham dieser Geschichte als Vorbild für blinden Gehorsam gegenüber Gott interpretiert. Doch die historisch-kritische Exegese zeigt, dass der Gehorsam gegenüber Gott nicht in der willfährigen Opferung des Sohnes besteht, sondern darin, nie wieder die damals üblichen Menschenopfer darzubringen. Der Gehorsam gegenüber Gott erfordert den Ungehorsam gegen politisch-ethische Normen der Zeit.

In einem zuerst in der Ha’aretz publizierten Artikel sieht der israelische Philosoph Omri Boehm darin die theologische Legitimation der Verweigerung des absoluten Gehorsams gegenüber Staat und Armee. Man könnte noch weiter gehen und darin die Legitimation für die Verweigerung der Menschenopfer sehen, die der Industriekapitalismus täglich in vielerlei Form fordert.

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