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Mit dem Blick nach Westen beginnt die Moderne: Romane und Gedichte erzählen die Geschichte des Landes am Bosporus.

Die diesjährige Frankfurter Buchmesse verschafft der türkischen Literatur die bislang größte internationale Aufmerksamkeit. Der Programmwechsel der Eröffnungsveranstaltung führte allerdings zum Protest einiger Autoren gegen die regierende AK-Partei. Statt des geplanten Nâzim Hikmet-Oratoriums wird das Yunus Emre-Oratorium erklingen, und damit wird nicht an den berühmten türkischen Dichter, sondern an einen Sufi erinnert. Die Protestierenden bleiben der Buchmesse fern.

Wie eng Politik und Literatur zusammenhängen, zeigt auch ein Blick in die Geschichte. Der Antrag um die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist Ausdruck und Ergebnis einer über 170 Jahre andauernden Westorientierung des Landes. Der Anfang dieser Bestrebungen war auch der Impetus für den Aufbruch der Moderne in der türkischen Literatur. Anhand der Literatur lässt sich die Geschichte der modernen Türkei erzählen. Damit soziale Themen diskutiert werden konnten, mussten literarische Gattungen erst importiert bzw. erschaffen und die existierende Gattung der Poesie verändert werden (siehe Seite 9). Der Roman etwa fand erst Mitte des 19. Jahrhunderts - infolge von übergreifenden Reformen im Staats-, Bildungs-, Rechts-, Presse- und Militärwesen - Eingang in die türkische Literatur.

Im Roman konnte man die Herausforderungen einer in Umwälzungen begriffenen Gesellschaft diskutieren: die Europäisierung und Modernisierung, den Übergang in eine Republik und die Entwicklung einer nationalen und laizistischen Identität. Man empfand es als notwendig, sich mit den Problemen des Landes auseinanderzusetzen; das wiederum hielt die Entwicklung der Literatur lange in nationalen Bahnen. Manchmal verpflichtete sich die Literatur selbst zu dieser Beschränkung, manchmal wurde sie ihr von der Politik auferlegt. In Zeiten politischer Repression und Zensur drückten die Dissidenten / Linken ihre Botschaften symbolisch in ihren literarischen Werken aus. Diese Tradition führte dazu, dass man auch in Zeiten minderer Repression von den Literaten verlangte, mehr politisch und weniger ästhetisch zu schreiben. Politik vereinnahmte Kunst und prägte die ästhetische Entwicklung der Literatur.

Zeit des Umbruchs

Die Werke der Anfangszeit der Republik ab 1923 kreisen um das Thema des Umbruchs. Sie stellen auch Zeitdokumente zu Stadt- bzw. Alltagsleben jener Ära dar. Die Tochter des Schattenspielers von Halide Edip Ad\0x0131var (1936; dt. Manesse 2008) spielt im Istanbul der Vorrepublikzeit, in der die repressive Herrschaft Abdülhamit II. jeden Widerstand im Keim erstickte. Weder die Mentalität der prowestlichen Jungtürken noch jene der Kreise um den Serail in ihrer dekadenten Nachahmung des Okzidents (der westlichen Manieren, der französischen Sprache etc.), konnten dem Volk als Vorbild dienen. Anhand einer Liebesbeziehung zwischen einem Europäer und einer Türkin, die schließlich zur Heirat führt, reflektiert das Werk über die Werte von Ost und West und das Traditionelle und Neue. Während diese Synthese die moralische Überlegenheit des Ostens demonstrieren möchte - der Europäer konvertiert zum Islam -, wird die Antwort auf die Repressionen des Sultans nur als Flucht ins Innere, im Sufismus gefunden.

Elite und Dorf

Der Fremdling von Yakup Kadri Karaosmanog\0x02D8lu (1932; dt. Suhrkamp 2008) steht im Zeichen der Entfremdung und der Distanz zwischen der intellektuellen Elite und der dörflichen Bevölkerung Anatoliens. Schauplatz ist ein Dorf zur Zeit des Befreiungskrieges. Die Dorfbewohner, die sich an erster Stelle nicht als Türken, sondern als Muslime begreifen, opponieren gegen General Mustafa Kemal (Atatürk) und seine Armee. So beginnt der Intellektuelle das Dorf, seine Menschen und die umgebende Natur zu verabscheuen, sie als hässlich, kalt und verdorben zu empfinden, während die Dörfler in ihm einen Feind, einen Fremdling sehen. Geschrieben im Jahr 1933, in der Enttäuschung über die mangelnde Teilnahme der dörflichen, anatolischen Bevölkerung an den Reformen der Republik, spiegelt der Roman die Position der nationalistischen Elite wider.

Seelenfrieden, ein autobiographischer Roman von Ahmet Hamdi Tanp\0x0131nar (1949, dt. Unionsverlag 2008), spielt kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Auch hier steht die Liebe zweier Menschen im Zentrum, auf deren Gedanken- und Gefühlswelten Tanp\0x0131nar seine Ansichten über die Modernisierung überträgt. Er kritisiert den Umstand, dass die authentischen Lebensformen im Zuge der Einführung von westlichen Lebensformen verloren gingen, man aber gleichzeitig keinen wirklichen Zugang zur westlichen Zivilisation fand. Tanp\0x0131nar unterscheidet die wirtschaftliche Entwicklung (Westen) und die ästhetische Welt (Osten) und plädiert für eine Synthese von beiden, welche jedoch nicht von Außen erzwungen werden, sondern von Innen ausgehen sollte.

Soziale Ungerechtigkeit

Nach 1950 verdrängt die sogenannte "Dorfliteratur" die Thematik der Verwestlichung: Im Fokus stehen das Elend der Landbevölkerung, die Klassenbeziehungen und soziale Ungerechtigkeit. In den 70er Jahren durchläuft die türkische Literatur eine Übergangsphase vom Gesellschaftlichen zum Individuellen. Der Realismus bot immer weniger Hilfe bei der Analyse der zunehmend als komplex empfundenen Wirklichkeit. Formales gewann an Bedeutung, der ästhetische Aspekt durfte nicht mehr zugunsten der politischen Botschaft aus den Augen verloren werden. Der Müßiggänger von Yusuf At\0x0131lgan antizipierte diese Entwicklung (1959, dt. Unionsverlag 2007).

Lange nach den politischen Romanen der Anfangszeit der Republik kam der Geschichtsroman der 90er Jahre dem Bedürfnis entgegen, über mögliche andere Wirklichkeiten neben der offiziellen Geschichtsschreibung zu spekulieren, die seit der Schaffung einer nationalen Identität im Zuge der Gründung der Republik Geltung beanspruchte. Man könnte die zunehmende Popularität des Geschichtsromans als Folge der ungelösten Identitätskonflikte, der rivalisierenden Geschichtsauffassungen, der Neugier auf Vergangenheit und der Sehnsucht, Geschichte einmal ohne Tragik und entspannt zu genießen, interpretieren. Yas¸ar Kemals Die Hähne des Morgens (2002, dt. Unionsverlag 2008) beleuchtet eine vernachlässigte Episode der Geschichte und handelt vom Bemühen der Menschen, auf einer Insel, die nach dem großen Austausch zwischen der Türkei und Griechenland im Jahre 1923 von den Griechen verlassen wurde, ein neues Leben aufzubauen.

Schnitt in den Realismus

Mit seinem Roman Die Schattenlosen zeigt Hasan Ali Toptas¸ (1995, dt. Unionsverlag 2006), dass die Zeit des Dorfromans vorüber ist. Die in einem Dorf angesiedelte Handlung entwickelt sich jenseits einer aus den Dorfromanen bekannten realistischen Wirklichkeit. Am Anfang hebt ein Friseur seine Schere wie ein Glas in die Luft, als ob er jemandem zuprosten wollte. Diese Schere wandert durch den Roman und schneidet die Helden immer wieder vom Geschehen ab, lässt sie verschwinden. Den Spannungen folgen keine Entspannungen; kaum etwas fügt sich zu einem Ganzen. Beinahe jeder Satz gerät durch einen aberwitzigen Einfall aus den Fugen. In Zeiten, wo jeder Haushalt Fernsehen und Handy hat, kommt nicht nur die Stadt ins Dorf, sondern auch das Dorf in die Stadt. So werden das Erzählen vom Dorf und das Fokussieren auf besonderes Unrecht im Dorf weniger bedeutend.

Zorn von Murat Uyurkulak (2002, dt. Unionsverlag 2008) ist durch eine schonungslose, erstaunlich direkte und doch zurückhaltende Erzählweise geprägt, die das Erzählte aber auch offen zu lassen weiß. Vor dem Hintergrund einer Zugreise von Istanbul nach Diyarbak\0x0131r, die gleichzeitig eine Reise zwischen den Generationen ist, werden keine Ideale, keine Hoffnungsbilder, auch nicht unbedingt das Unrecht gezeigt, sondern das Danach: Die linke Welt mit ihrer leidvollen, inoffiziellen Geschichte löst sich zwischen Kampfeslust und Flucht, Behauptung und Zerschlagenheit in ihre Bestandteile auf … Der Roman ist realistisch, aber nicht im Sinne des Sozialrealismus, der lange vorherrschte. Das Stimmungsbild sagt viel über die linke Befindlichkeit und damit über die Türkei nach 1990 aus.

Gegenwärtig beeinflussen sich die Literaturen unterschiedlichster Länder in ästhetischer wie thematischer Hinsicht, das "Nationale" löst sich auf. Die große Übersetzungsoffensive der 90er Jahre und die gesunkenen Druckkosten für kleine Auflagen führten dazu, dass viele europäische und türkische Werke am Markt erscheinen können. Auch die gegenwärtige Literatur erzählt von der gesellschaftlichen, politischen, religiösen Situation der Türkei, sie versteht sich aber nicht mehr als Gehilfin der Politik.

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