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Digital In Arbeit

Wird die Heilsarmee bald die Sozialversicherung ersetzen?

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Europas Sozialversicherungssysteme werden nicht nur von innen attackiert, sondern auch von außen. In den USA sinkt die Zahl der Arbeitslosen, dafür gibt es immer mehr „workingpoor”, die zwar arbeiten, aber zuwenig verdienen, um davon leben zu können. Doch amerikanische Medien machen immer öfter die Sozialleistungen der europäischen Unternehmen für die wirtschaftlichen Probleme Europas verantwortlich. Wer das dahinter stehende ökonomische Denken in Reinkultur kennenlernen möchte, sollte das jüngste Buch von Peter Drucker lesen.

Drucker, in Wien geboren, gilt als Guru der Wirtschaftsgurus. Bereits 1939 erreichte er mit seinem ersten Buch, „The End of Economic Man”, Weltbekanntheit und auch sein jüngstes, sehr lesbares, „Management im Umbruch”, ist als Wegweiser in, die Zukunft gedacht.

Drucker steht für die „neoklassische Wirtschaftslehre”. Die Bezeichnung „Neo-Konservatismus” lehnt er ab, wie er Neo-Liberalismus, Milton Friedman und Keynes ablehnt, deren falsche Lehren die Keynesianer Reagan und Thatcher dazu gebracht hätten, ihre Länder katastrophal zu verschulden.

Druckers Zielgruppe sind die Manager. Im aktuellen Umbruch der Wirtschaft sieht er Herausforderungen, aber auch Chancen für sie. Gestern noch schienen die Großunternehmen für die Ewigkeit gebaut, morgen schon könnte der eine oder andere multinationale Gigant verschwunden sein. Das erfordere eine ganz neue Strategie für den Manager, der sein Leben nicht irTn eine Zeiterscheinung wie einen Konzern organisieren könne. Er müsse seine Karriere selber in die Hand nehmen, „die Trittleiter ist verschwunden”.

Ähnliches gelte für die Unternehmen. Die Philosophie, welche die Strategie der Konzerne seit über hundert Jahren geprägt habe, greife nicht mehr. Doch jedes große Unternehmen der Geschichte habe sich bislang geweigert, derartige Überraschungen zu akzeptieren. Auch General Motors wollten es nicht wahrnehmen, versuchten durch Lean-Produktion und Automatisierung der Massenproduktion konkurrenzfähig zu bleiben -„und verloren in diesem Prozeß 30 Milliarden Dollar”.

Drucker ortet einen „Bedarf an Vorsorge”. Dazu gebe es nur zwei Maßnahmen: Die erste sei „Aufgeben” (von sicheren Linien), drei Jahre müsse die Gesamtstrategie eines Unternehmens in Frage gestellt werden. Zweitens „die Analyse dessen, was sich außerhalb der eigenen Aktivitäten abspielt, eine Analyse des Verhaltens der Nichtkunden.” Eine Unternehmensphilosophie sei immer dann überholt, wenn das Unternehmen sein Ziel erreicht habe.

Eine wirksame Unternehmensstrategie beruhe auf Information über vier Gebiete. Erstens: die übliche oder Standardberechnung. Zweitens: die EVA („Economic Value-added Ana-lysis”), um die Gesamtproduktivität

NewtGingrich sagt's ähnlich in den Griff zu bekommen, denn „das Geld, das uns überbleibt, ist nicht wirklich als Gewinn zu betrachten” . Aus dieser Perspektive hätten seit dem Zweiten Weltkrieg wenige US-Unternehmen „wirklich gewinnbringend gearbeitet”. Drittens Information über besondere Fähigkeiten des Unternehmens, viertens über knappe Bessourcen.

Die neuen Märkte sieht Drucker nicht mehr auf dem Konsumgüterund Investitionssektor. Von vier neuen Märkten würden drei in der Infrastruktur für Dienstleistungen zu finden sein: in der Informationstechnologie, der Umwelttechnologie eingeschlossen agrarbiologische Produkte und Energie, in neuartigen Infrastrukturen für Transport. Den vierten Markt sieht er nicht bei Produkten und Dienstleistungen, sondern in einer von der Demographie geschaffenen Nische, dem „Markt für Anlageprodukte, die ein Überleben im hohen Alter gewährleisten.”

Selbst bei maximaler Ausweitung aller Märkte werde es einen Überschuß an Arbeitskräften geben. Das Wirtschaftsleben habe neue Dimensionen erreicht, mit extrem spezialisierter wissensbasierter Arbeit als Grundlage für das Funktionieren der Gesellschaft. Da „nicht-wissensba-sierte” Tätigkeit nur noch einen kleinen, weiter sinkenden Teil der Lohnkosten ausmache, sei übrigens die Angst vor den niedrigen Lohnkosten anderer Länder ein irrationales Überbleibsel anderer Zeiten. Die größte Konkurrenz für Amerika kommt laut Drucker aus Japan und Deutschland, Ländern mit höheren Löhnen. Niedriglohnländer könnten nur kurzfristig Vorteile wahrnehmen. Freilich: Gehälter mit diesem Argument zu senken, ist für Unternehmen alles andere als irrational.

Auch Drucker meint, daß sich durch diese ebeftso unvermeidliche wie wünschenswerte Entwicklung und das Überflüssigwerden „nichtwissensbasierter” Tätigkeit einige soziale Probleme ergeben werden. Seine Vorstellungen für den überschüssigen Bevölkerungsteil klingen wie Vorlagen zu Reden des republikanischen Rechtsaußen Newt Gingrich.

Drucker begründet seine sozialen Überzeugungen originell, aber etwas abenteuerlich. Soziale Probleme sind für ihn vom Wohlfahrtsstaat geschaffene Pseudoprobleme. Seiner Meinunggäbe es in Deutschland ohne die von Bismarck geschaffene Sozialversorgung keine Arbeitslosen. Nun beruhen aber Kranken- und Arbeitslosenversorgung grundsätzlich auf dem Versicherungsprinzip und werden von den zu Versorgenden zu einem großen Teil selbst finanziert. Daß das medizinische System in einer Krise steckt, ist richtig - Drucker verliert aber kein Wort darüber, daß die Gesundheitskosten in den USA um fünf Prozent des Bruttosozialprodukts höher sind als in den europäischen Sozialversicherungsländern mit den höchsten Gesundheitskosten.

Daß Regierungen Reserven der Sozialversicherung abschöpften (und es zum Teil weiter tun) und damit die Fehlsummen erhöhen, wird gern vergessen. Wahrscheinlich folgt Drucker einer „political correctness”, wonach Versicherung gut ist, wenn sie privaten Unternehmen Gewinne beschert, und des Teufels, wenn sie im Rahmen nicht gewinnorientierter Institutionen gewährleistet wird. Auch Drucker wird eben ideologisch, sowie er sich von der Betriebswirtschaft wegbewegt.

Jedenfalls müsse man, erklärt er, zu den traditionellen Sektoren der Gesellschaft, dem privaten und dem öffentlichen, mit einem dritten, dem sozialen Sektor rechnen. Dieser müsse auf privater Initiative beruhen, denn die vom Staat garantierten Ansprüche auf Sozialleistungen seien „zur Bedrohung des Überlebens der gesamten Demokratie, wenn nicht des gesamten Staates geworden”. Zwar sei private Initiative auf diesem Sektor noch sehr beschränkt, doch sieht Drucker ein wichtiges Vorbild in dem, „was beispielsweise die Heilsarmee so erfolgreich macht”. Heilsarmee statt Sozialversicherung: Da ist die Katze aus dem Sack.

Natürlich ist er auch gegen die offizielle amerikanische Linie, in der

Außenpolitik auf Demokratie zu bestehen und Entwicklungshilfe von Fortschritten in Richtung Demokratie abhängig zu machen. Er ist überhaupt gegen Entwicklungshilfe und für die Duldung diktatorischer, allerdings rechtsstaatlicher, Person und Eigentum schützender Regimes, denn: „Politische Freiheit und Demokratie folgen der wirtschaftlichen Entwicklung.” Chile und Argentinien hält er für gute Beispiele.

Ansichten wie jene Druckers sind derzeit in den USA auf politischem wie auf wirtschaftlichem Gebiet en vogue. Die amerikanischen Wahlen im Herbst werden zeigen, ob das Pendel wieder in die andere Bichtung schwingt - oder ob das Prinzip „Bereichert euch!” seinen Siegeszug fortsetzt und die soziale Kälte zunimmt.

In letzterem Fall ist noch mehr Beispielswirkung für Europa zu befürchten. Vorsorgliche Eltern aus „nichtwissensbasierten” Schichten werden dann gut tun, ihre Kinder Trompete lernen zu lassen. Die Heilsarmee könnte viele Trompeter brauchen.

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