ESC - <strong>Politisch-unpolitisch?</strong><br />
Obwohl politische Botschaften beim ESC offiziell verboten sind, gewann die Ukrainerin Jamala ihn 2016 mit einem Lied über die Krim. - © Getty Images / Michael Companella

Eine Bühne für viele Politiken

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GASTKOMMENTAR. Nationalistisches Kampfgebiet, grenzüberschreitendes Friedensfestival und queeres Großevent: Der Eurovision Song Contest als ambivalentes musikalisch-politisches Reality-TV.

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GASTKOMMENTAR. Nationalistisches Kampfgebiet, grenzüberschreitendes Friedensfestival und queeres Großevent: Der Eurovision Song Contest als ambivalentes musikalisch-politisches Reality-TV.

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Der Eurovision Song Contest (ESC) ist mehr als ein Musikwettbewerb. Er ist politisch-musikalisches Reality-TV, dessen Darsteller in einer Doppelrolle als singend-tanzende Entertainer und Vertreter ihrer jeweiligen Nationen agieren. Reality-TV wird oft als Unterschichtenfernsehen gebrandmarkt und ins Lächerliche gezogen. Gleichermaßen gilt
der ESC hierzulande meist als Witzveranstaltung, als etwas Auszulachendes, was sich dann häufig „ironische Distanz“ nennt. Dieser Blickwinkel ist ein Fehler.
Er ignoriert die vielfältigen Politiken, die auf der Bühne des ESC zur Schau gestellt werden. Er ignoriert die Ernsthaftigkeit, die sich hinter der lächerlichen Fassade verbirgt. Nicht zuletzt ignoriert er all die Menschen, für die der ESC mehr als eine Lachnummer ist.

Die Geschichte des ESC beginnt 1950 mit der Gründung der europäischen Rundfunkunion EBU. Nur fünf Jahre, nachdem der Rundfunk vorwiegend ein Kriegsinstrument und Ausstrahlung über Landesgrenzen hinweg ein Synonym zu Feindpropaganda war, sollte der Rundfunk europaweit nicht allein technisch, sondern auch inhaltlich verknüpft werden. Diesem politischen Auftrag folgend, wurde 1956 zum ersten Mal der „Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne“ ausgetragen. Als jährliche, länderübergreifende Live-Ausstrahlung strapazierte und erweiterte er die Grenzen der damaligen technischen Leistungsfähigkeit. Für die Dauer der Ausstrahlung konnten alle Menschen im gesamten Empfangsgebiet gleichzeitig die gleichen Dinge sehen und hören. Der ESC schuf eine europaweite Bühne, die Künstler aus ganz Europa auch mit ihren Politiken füllten.


„Moralisch verweichlicht“

Diese Bühne vergrößerte sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Der mittel- und osteuropäische Rundfunkverband OIRT fusionierte 1993 mit der EBU, womit der ESC nach Osten hin erweitert wurde. Und so wurde die ESC-Bühne plötzlich zum Schauplatz des Ost-West-Konflikts. Auf der einen Seite sieht der „Westen“ weiterhin das Gespenst von Kaltem Krieg und Sow­jetunion. Der jährlichen Klage über das „Blockvoting“ zufolge würde der ehemalige sowjetische Block seine Stimmen nur intern vergeben, Westeuropa bliebe außen vor. Statt um Musik drehe sich der Wettkampf nun um Politik. Auf der anderen Seite sieht der „Osten“ im ESC einen Propagandaapparat für den „Westen“. Als die Twitteria in Russ­land 2014 gegen den Sieg von Conchita Wurst protestierte, tat sie dies mit Verweis auf den herrschenden „Europaintegrationismus“ und eine moralische Verweichlichung des Westens.

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