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Die Normen der Sittlichkeit

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Der Papst sagt, ein Abgehen von den bisherigen Richtlinien der katholischen Sittlichkeit sei nicht genügend begründet. Wie sehen nun diese Richtlinien aus und welche Möglichkeiten lassen sie offen?

Kurz sei daran erinnert, daß nach katholischer Auffassung der Mensch von Gott als Geschlechtswesen ins Dasein gerufen wurde („Als Mann und Weib schuf er sie“, Gen. 1, 27). Es ist katholische Grundanschauung, daß der Mensch verpflichtet ist,

1. die ihm von Gott gegebenen Fähigkeiten (auch die geschlechtlichen) in ihrem Bestand und in ihrem Funktionieren zu erhalten (ausgenommen der Fall, daß ein Organ oder seine Tätigkeit den ganzen Organismus schwer gefährdet) und

2. bei der Betätigung dieser

Fähigkeiten ihre natürliche Bestimmung zu achten. fl. 2, -ir-

Die Geschlechtsverschiedenheit ist nun nach katholischer Lehre auf Verbindung hingeordnet, und zwar mit zweierlei Zielsinn:

1. Gegenseitige Ergänzung und Bereicherung von Mann und Frau („Es ist nicht gut für den Menschen, daß er allein sei. Ich will ihm eine Gehilfin machen, die ihm entspricht“, Gen. 2, 18; „Deshalb verläßt ein Mann Vater und Mutter und hängt seinem Weib an, und sie werden ein Leib“, Gen. 2, 24),

2. Fortpflanzung („Seid fruchtbar und mehret euch“, Gen. 1, 28).

Die Pflicht zur Fortpflanzung liegt auf jenen, die sich zur Geschlechtsgemeinschaft der Ehe verbunden haben; das hat Pius XII. mit aller Deutlichkeit herausgestellt. Durch diese Pflicht sind sie gegenüber der Gesellschaft, letztlich gegenüber Gott gebunden. Der Gesellschaft ist aber nicht mit jeder Weckung neuen Lebens richtig gedient, sondern nur mit solcher, die soweit als möglich die Gewähr bietet, daß das ins Dasein getretene Kind zu einem wertvollen Glied der Gesellschaft heranwächst. Wo dafür Hindernisse (medizinischer, eugenischer, wirtschaftlicher, sozialer Art) bestehen, wird die Pflicht, auf die Weckung neuen Lebens bedacht zu sein, nicht drängend. Jedes Ehepaar soll grundsätzlich zum Kind bereit sein, hat aber das Recht und die Pflicht der gewissenhaften Prüfung, ob es unter den gegebenen Verhältnissen ein Kind verantworten kann. Wünschenswert ist nicht die biologisch höchstmögliche, sondern die optimale Kinderzahl.

Außer zum Kind sind Gatten zur gegenseitigen Bereicherung, die sie einander in Liebe schenken, verpflichtet, auch und besonders im ehelichen Verkehr. Diese gegenseitige Beglückung ist wesentlicher Zielsinn der Ehe. Sie wird dadurch gekrönt, daß die Gatten gemeinsam in Liebe dienen wollen.

Für den ehelichen Verkehr im besonderen gilt, daß er immer die gegenseitige Liebe ausdrücken und auf ihre Vertiefung hingeordnet sein soll. Er soll aber auch bei zeugungsunfähigen Gatten in dem, was sie leisten, immer auf das Kind ausgerichtet sein, entweder unmittelbar oder wenigstens mittelbar (durch Vertiefung der liebeerfüllten Ver-

bundenheit, die zum Dienst an schon vorhandenen oder künftig zu erwartenden Kindern fähig macht).

Regelung oder Kontrolle?

Die biologisch mögliche Kinderanzahl wäre heute in den meisten Fällen höher als die optimale. Auf welchem Weg ist die erste auf die zweite einzuschränken? Seit Pius XII. hat sich im katholischen Bereich die Unterscheidung der „Geburtenregelung“, die nur sittlich einwandfreie Mittel heranziehen will, von der „Geburtenkontrolle", die wahllos alle Wege geht, einge-

bürgert (vgl. St. de Lestapis, „Geburtenregelung — Geburtenkontrolle“, Freiburg-Basel-Wien, 1961).

Welche Wege sind nun sittlich einwandfrei? Unter der Voraussetzung, daß im Einzelfall stichhaltige Gründe gegen die Weckung neuen Lebens sprechen, ist es zu billigen, wenn ein Ehepaar sich für die Dauer dieser Verhältnisse zur vollständigen Enthaltsamkeit entschließt. Es kann sein, daß Mann und Frau durch das gemeinsam gebrachte

Opfer seelisch miteinander enger verbunden werden. Es kann aber auch sein, daß sie durch die vollständige Enthaltsamkeit in die Gefahr geraten, einander entfremdet zu werden. Dann müssen sie nach einem anderen Weg suchen.

Ein solcher kann die Beschränkung des Verkehrs auf die unfruchtbaren Tage der Frau sein, zu deren Feststellung verschiedene Methoden (Kalender, Temperaturmessung) ausgebildet wurden. Die Kirche begrüßt es, daß an der Vervollkommnung dieser Methoden gearbeitet wird. Auch diese von Pius XI. (Enzyklika „Casti connu- bii“) und Pius XII. gebilligte Zeitwahl bleibt freilich eine Notlösung, da sie der Frau den Verkehr in der Zeit ihrer (dem hormonalen Geschehen nach) geringsten seelischen Bereitschaft dazu zumutet.

Entschieden haben Pius XI. und Pius XII. den verhütenden Eingriff in den Verkehr selbst (Abbrechen, Gebrauch von Verhütungsmitteln) abgelehnt. Der Grund liegt darin, daß es sich hier um ein Tun gegen den Zielsinn „Fortpflanzung“ handelt; zum Unterschied davon ist die vollständige Enthaltsamkeit nicht ein Tun, sondern ein begründetes Nichtgebrauchen einer Fähigkeit, und die Wahl der unfruchtbaren Tage ein ebensolches Nichtgebrauchen in den fruchtbaren Tagen und ein Gebrauchen in den Tagen, die von Natur aus, nicht durch Eingriff des Menschen, unfruchtbar sind. Aber könnte der Verkehr mit verhütendem Eingriff nicht wenigstens mittelbar auf die Fortpflanzung hingeordnet werden, nämlich dadurch,

daß er der Vertiefung der Gattenliebe dient, die wiederum vorhandenen oder künftigen Kindern zugute kommen könnte? Eben das scheint man auch verneinen zu müssen. Am klarsten ist es wohl für das Abbrechen des Verkehrs, das ungelöste Spannungen zurückläßt und bei längerer Übung die Gefahr einer Entfremdung der Gatten mit sich bringt. Aber auch beim Verkehr mit Verhütungsmitteln scheint es um die Vertiefung der gegenseitigen

Liebe nicht gut bestellt zu sein, da in ihm die Gatten sich einander nicht vollkommen ohne jegliche Einschränkung schenken.

Schon gar nicht ist die katholische Sittlichkeitslehre mit dem Eingriff nicht nur in den Akt, sondern in die Fähigkeit selbst einverstanden, nämlich mit der chirurgischen Sterilisation. Der Grund ist der, daß der Mensch versehrt wird, da ihm wichtige menschliche Funktion unmöglich gemacht wird. Wenn ein solcher Eingriff nicht zur Rettung des ganzen Organismus notwendig ist, hat der Mensch vor Gott nicht das Recht dazu, und er hat auch nicht das Recht, einen solchen Eingriff seinem Ehepartner zuzumuten. Pius XI. und Pius XII. haben sich nachdrücklich gegen die Sterilisation gewandt. Wohl zu beachten ist, daß sie von der dauernden oder zeitweiligen chirurgischen Sterilisation reden; die medikamentösen Möglichkeiten waren damals noch nicht entwickelt. Immerhin sagt Pius XI. schon, es sei unerlaubt, wenn es nicht zum Wohl des ganzen Körpers notwendig sei, Körperorgane zu zerstören oder zu verstümmeln oder auf einem anderen Weg zu ihren natürlichen Funktionen unfähig zu machen („Casti connubii“).

Die medizinischen Fragen

Die biologische und die medizinische Forschung haben die neue Möglichkeit gebracht, durch Medikamente („Pille“) die Reifung von Keimzellen zu verhindern. Für die Dauer der Wirkung dieser Medikamente kann ein steriler Verkehr geübt werden. Wenn der Gebrauch der Medikamente nicht durch das Ganzheitsprinzip (das Wohl des Gesamtorganismus) erforderlich ist, erscheint er nicht gerechtfertigt; man will dann eben zunächst nur die Sterilität des Verkehrs und erst durch sie etwas anderes erreichen; dafür wird der Ausdruck direkte Sterilisation gebraucht. Der so ermöglichte sterile Verkehr hat gegen sich nicht nur, daß er nicht unmittelbar auf die Zeugung hingeordnet ist, sondern auch, daß er der Frau zu einer Zeit zugemutet wird, zu der sie infp e.des Ausfalls der entsprechenden Hormone seelisch und körperlich gar nicht zum Verkehr gestimmt ist. Wenn jedoch die Medikamente um einer bedeutenden Heilwirkung willen genommen werden und nebenbei unbeabsichtigt, wenn auch vorausgesehen, die Sterilität herbeiführen, oder wenn die Tätigkeit der Keimdrüsen den ganzen Organismus schwer beeinträchtigen und ihre Einstellung daher wünschenswert erscheint, ist durch solche Gründe der Gebrauch der Medikamente gerechtfertigt; man spricht dann von indirekter Sterilisation.

Ein einziges Mal, knapp vor seinem Tod, am 12. September 1958, hat Pius XII. ausdrücklich von der Pille gesprochen, hat die direkte zeitweilige Sterilisation durch sie abgelehnt, hat aber die indirekte Sterilisation aus entsprechenden Gründen gutgeheißen. Für die schweren Mängel, die durch letztere behoben werden dürfen, gebraucht er zwei verschiedene Ausdrücke: „Gebärmutter- oder Organismuskrankheit“ und „übertriebene Reaktionen der Gebärmutter und des Organismus“. Es handelt sich mm darum, festzustellen, was solche Mängel oder übertriebene Reaktionen sind. Die von Paul VI. erwähnten Fachleute scheinen gegenwärtig mit der Klärung dieser und ähnlicher Fragen beschäftigt zu sein. Sie werden zum Beispiel klarzustellen haben, ob das Ruhen der Ovarien (und damit die Empfängnisunfähigkeit) durch eine gewisse Zeit nach der Geburt natürlich und ihre Tätigkeit (und damit die Empfängnisfähigkeit) ein Zivilisationsschaden, also eine „übertriebene Reaktion des Organismus“ ist, die mit Hilfe von Medikamenten auf den normalen Zustand hin korrigiert werden darf. Ähnliche Fragen wären hinsichtlich „abnormaler“ Zyklen und ihrer Normalisierung durch Medikamente zu stellen.

Das sind, kurz Umrissen, die Normen der katholischen Sittlichkeit, die durch Pius XI. und Pius XII. aufgezeigt wurden und von denen abzugehen man nach der Auffassung Pauls VI. bis jetzt keinen genügenden Grund hat

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