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Das „Memorandum der acht“

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Es kommt in Deutschland nicht sehr häufig vor, daß eine Gruppe von Männern des öffentlichen Lebens, die weder an eine Partei noch an einen Interessenverband gebunden sind, zu Fragen der Politik Stellung bezieht. Es gehörte schon die quälende Situation im vergangenen Herbst dazu, um eine Denkschrift zu veranlassen, die unter dem Namen „Memorandum der acht“ zur Zeit in Westdeutschland beträchtliches Aufsehen erregt. Der Physiker Professor von Weizsäcker, sein Schüler Professor Heisenberg und seine Freunde, der Präsident der Volkshochschulen Helmut Becker und der Pädagoge Georg Pacht, der Präsident des Wissenschaftsrates Professor Ludwig Raiser, Präses Beekmann, der Intendant des Westdeutschen Rundfunks Klaus von Bismarck und der Mathematiker Günther Howe sahen sich Anfang November veranlaßt, ihre Stimme warnend zu erheben. Die Außenpolitik, die Rüstung und der Bevölkerungsschutz sowie die Sozial- und Kulturpolitik sind von ihnen sehr eingehenden Analysen unterzogen worden. Das Schriftstück trägt das Datum des 6. November 1961. Als es Ende Februar an die Öffentlichkeit kam, hatte es an Aktualität nichts eingebüßt, ja einige der angeschnittenen Fragen sind sogar noch drängender geworden. Das liegt nicht nur an der Denkschrift, sondern auch an der allgemeinen politischen Situation in Westdeutschland. Das Staatsschiff ist mit seiner neuen Regierungskoalition noch immer nicht flott.

Ein unbequemes Stück Papier

In einer solchen Situation ist eine Denkschrift, deren Verfasser außerhalb der Politik stehen, doppelt unangenehm. Es konnte daher nicht ausbleiben, daß dieses unbequeme Stück Papier von verschiedenen Seiten abgewertet wurde. Eine Handhabe bot der Abschnitt Außenpolitik. Hier wurde die Ansicht vertreten, daß Westdeutschland bei dem allgemeinen Mißtrauen, das im Ausland immer, noch gegen Deutschland vorhanden ist, der Versuchung widerstehefl müßte, die Krise um Berlin zu einer Politik der nationalen Ziele zu benutzen. Die freie Welt stehe hinter West-Berlin, sie sei auch bereit, die Wiedervereinigung als eine grundsätzlich berechtigte Forderung anzuerkennen, sie lehne aber jede Politik als Revanchismus ab, die die Grenzen des Jahres 1937 in ihre Ziele einbeziehe.

Wie richtig das Memorandum die Lage erkannte, bewies der Besuch des amerikanischen Justizministers Robert F. Kennedy in Berlin im Februar. In einer Diskussion mit West-Berliner Studenten betonte der Bruder des amerikanischen Prsäidenten die Verbundenheit Amerikas mit Berlin. Die Frage, ob Amerika bereit sei, für die Wiedervereinigung Deutschlands zu kämpfen, beantwortete er aber mit einem klaren „No“. Der Widerspruch gegen das Memorandum entzündete sich an dem Satz: „Wir belasten unser nationales Anliegen der Wiedervereinigung, wenn wir es mit der Forderung nach den Grenzen von 1937 verknüpfen.“ Er kam von Kreisen, die zum Unbehagen vieler Politiker aller Parteien seit dem 13. August 1961 in einem ausgesprochen nationalistischen Fahrwasser steuern. Zu ihrem Sprachrohr hat sich der Chefredakteur der Zeitung „Die Welt“ und des Boulevardblattes „Bild“, Hans Zehrer, gemacht, der sich neckischerweise mitunter auch „Hans im Bild“ nennt. Seit Monaten betreibt „Bild“ eine nicht ungefährliche Ver-nebelung des Publikums mit nationalistischen Phrasen, die sich mitunter wie Parolen der deutschnationalen Presse aus der Zeit vor 1933 lesen. In diesen Zusammenhang gehört auch die von den genannten Zeitungen inszenierte Hetze gegen den deutschen Botschafter in Moskau, Kroll, dem von den Zeitungen vorgeworfen wurde, er befürworte einen Verzicht auf die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie. Wie sich der Streit um die von Kroll bestrittenen Äußerungen auch entscheiden wird, die Absicht ist klar: Es soll ein Exempel statuiert werden, das jeden, der, aus welchen Gründen auch immer, von einem Verzicht auf diese Gebiete redet, zum Verräter stempelt. Es ist symptomatisch für die Stagnierung der politischen Aktivität in Bonn, der auch die genannte Denkschrift

ihr Aufsehen 2u einem guten Teil verdankt, daß eine derart heikle Frage, wie das Verhältnis Westdeutschlands zur Oder-Neiße-Linie, in die Niederungen einer von jeder Sachlichkeit weit entfernten öffentlichen Diskussion geraten konnte. Die in dem „Memorandum der acht“ als bedenklich bezeichnete Planlosigkeit der deutschen Außenpolitik ist vier Monate nach ihrer Abfassung verworrener denn je.

„Konstellationen des Augenblicks“

Das zeigt auch eine andere in dem Memorandum angeschnittene Frage. In eindringlichen Worten warnt es davor, die Forderung nach Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen zu betreiben, weil eine solche leicht bei den westlichen Verbündeten als ein Mißtrauen gegen Amerika ausgelegt werden könnte. Wie berechtigt diese Warnung war, erwies sich in diesen Tagen, als Präsident Kennedy sich energisch bei dem deutschen Botschafter in Washington, Grewe, über die Bemühungen des Bundesverteidigungsministers Strauß beschwerte, für die

Bundeswehr Atomwaffen zu erhalten. Kennedy fügte hinzu, er ersuche Bonn, doch mehr Vertrauen in die amerikanischen Garantien zu haben, die nicht jede Woche wiederholt werden könnten.

Nicht weniger berechtigt als die außenpolitischen Ausführungen sind die über die Sozialpolitik. Hierüber sind die Ansichten innerhalb der Koalition, genauer gesagt zwischen dem linken Flügel der CDU und der FDP, so sehr entgegengesetzt, daß Bundesarbeitsminister Blank im Bundestag eine große Anfrage der Opposition nach den Zielen der von der Bundesregierung beabsichtigten Sozialpolitik unbeantwortet lassen mußte. Anderseits zeigt die nur mühsam aufgehaltene Streikbewegung, die Kündigung vieler Tarife durch die Gewerkschaften, wie dringend dieses Problem ist. Das Memorandum kommt zu dem Schluß: „Überall drängen sich taktische Konstellationen des Augenblicks zu stark in den Vordergrund. Damit ist der Kampf um eine Sicherung unserer Gesellschaftsordnung nicht zu gewinnen.“

Die Zügel schleifen

In diesem Satz ist das Problem eingeschlossen: Man sucht keine Dauer -lösungen, sondern man taktiert. Mit anderen Worten: Die Zügel schleifen. Manch einer, der im Herbst noch die Beteiligung der Sozialdemokraten an der Regierung fast als etwas Ähnliches wie ein Sakrileg angesehen hatte, ist heute anderer Meinung. Die Koalition CDU/FDP hat sich noch immer nicht überzeugend durchgesetzt. Hieran ist die Verärgerung der CDU-Politiker über die Parforceritte ihrer FDP-Kollegen und insbesondere des sprunghaften FDP-Vorsitzenden Mende ebenso schuld wie die Erstarrung der CDU, die es acht Jahre nicht nötig hatte,

die Macht zu teilen. Die Zeichen häufen sich auch anderswo, daß Adenauer die Zügel nicht mehr so fest in der Hand hat, als nötig wäre. Man spricht in Westdeutschland von einer Krise. Aber man ist sich nicht im klaren, ob es eine Krise der Koalition, der CDU oder gar eine Krise der Demokratie ist. Und das ist das eigentlich Bedrohliche. Die Stagnation in Bonn stellt alles in Frage, was sich an demokratischem Denken und Gewohnheiten in den vergangenen dreizehn Jahren entwickelt hat. Die Denkschrift ist heute aktueller, als sie es bei ihrer Abfassung war. Das bedeutet aber keineswegs, daß sie deshalb in

Bonn Beachtung findet. Der Passus über die Oder-Neiße-Linie muß dazu herhalten, das ganze, höchst beachtenswerte Schriftstück als indiskutabel abzulehnen. Wenn nicht alles trügt, so siegt in Bonn die altbekannte Devise der Ministerialbürokratie: „Das wäre ja noch schöner, wenn diese Außenseiter recht hätten!“

Daneben soll nicht geleugnet werden, daß die Denkschrift auch ihre schwachen Seiten hat. Der Satz, womit die acht ihren Vorstoß in die Politik begründen: „Einem Politiker, der auf Wählerstimmen angewiesen ist, fällt es nicht leicht, der öffentlichen Meinung entgegen zu handeln“, könnte sich auch in einer der vielen Denkschriften der Jahre vor 1933 finden. Er darf in seiner Bedeutung für die Denkschriften nicht überbewertet werden, aber es sei doch die Feststellung erlaubt, daß die parlamentarische Demokratie in Deutschland nach 1945 bewiesen hat, daß diese Befürchtung unberechtigt ift. Gerade die CDU/CSU schreckte 1956 vor so unpopulären Maßnahmen wie der Wiederbewaffnung nicht zurück und hat ihren Stimmenanteil bei den Bundestagswahlen von 1957 beträchtlich erhöhen können. Auch im Herbst 1961 war die Möglichkeit vorhanden, alle demokratischen Kräfte für eine große, gemeinsame Innen- und Außenpolitik zu gewinnen. Es liegt nicht am demokratischen System, sondern an der Erstarrung der CDU/CSU, wenn heute unpopulären Maßnahmen ausgewichen wird.

Während der Koalitionsverhandlungen vom vergangenen Herbst ist mehrmals die Befürchtung ausgesprochen worden, diese Koalition werde die< unausweichliche Krise der CDU beschleunigen. Es spricht vieles dafür, daß sie zu einer Krise der parlamentarischen Demokratie in Westdeutschland wird, die nicht mit herkömmlichen Mitteln überwunden werden kann. Vielleicht liegt darin eine Chance, daß diese beachtliche Denkschrift nicht nur beschriebenes Papier bleibt.

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