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Das Recht der Billigkeit

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Am 14. April war die Peterskirche der feierliche Raum für einen Akt, der nicht selten war wegen seiner kirchlichen B e-deutung, sondern wegen der wissenschaftlichen Besonderheit der Persönlichkeit, der sie galt, der solenne Abschluß des Beatifikationsprozesses für den Rechtsgelehrten Contardo Ferrin i, diesen bahnbrechenden Forscher moderner Rechtswissenschaft.

Den wissenschaftlichen .Ruhm Contardo Ferrinis begründet der von ihm geführte Nachweis des christlichen Einflusses auf das römisch-byzantinische Recht. Daß das kanonische Recht aus dem römischen herausgewachsen ist, galt als wissenschaftliche Tatsache; seit Contardo Ferrini aber wissen wir erst, daß auch die rechtsbildende Kraft der souveränen Kirche das römische Recht in seiner letzten Entwicklungsperiode wesentlich beeinflußt hat. In den. „juristischen Kenntnissen des Arnobius und Lactantius“ konnte Ferrini den einwandfreien Nachweis erbringen, daß es diesen beiden gelungen war, unter vielen anderen Gesetzen besonders den christlichen Begriff des Naturrechtes in den Kodex und in die Novellen einzuführen als sogenannte „Acqui-tas“ (Billigkeit). Damit wurde das ganze Gebäude des römischen Rechtes auf eine neue Grundlage gestellt, auf die gottgeschaffene Natur des Menschen. Nicht mehr das positive, von Menschen gemachte, Gesetz ist von da ab die einzige Quelle des Rechtes, sondern an seine Stelle'tritt die der menschlichen Natur entsprechende „Billigkeit“, ein ungeschriebenes Gesetz, das schließlich auf Gott als oberste Rechtsquelle zurückgeht und durch die positive Gesetzgebung nur näher zu bestimmen und zu entfalten ist. Es gibt demnach kein rein menschliches Recht und noch weniger Rechtsträger, die ihr Recht nur auf Menschen zurückführen müßten. In seinem „Diritto penale Romano“ legt Contardo Ferrini dar, daß die Prinzipien des Naturrechtes infolge des christlichen Einflusses seit und durch Lactantius nicht nur von phvsischen Einzelpersonen, sondern auch von allen Formen der menschlichen Gemeinschaften gelten. In mehreren Schriften gegen den Rechtspositivismus befaßt sich Ferrini auch mit der metaphysischen Begründung der naturgegebenen Rechtsfähigkeit menschlicher Gemeinschaften: der Mensch als Ens sociale hat von Natur aus den Trieb, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen, um gemeinsam die irdischen und ewigen Ziele zu erreichen. Dieser gottgewollte Naturtrieb ist ein Naturgesetz, ihm entspricht ein Naturrecht, das Recht auf Assoziation, ein Recht, das der einzelne Mensch von Geburt aus in die Welt mitbringt und das ihm keine weltliche oder kirchliche Macht befugt ist zu geben oder zu nehmen. In dieser historischen und metaphysischen Begründung des Naturrechtes liegt die wissenschaftliche Größe Contardo Ferrinis, dem die Universität von Pavia ein Denkmal gesetzt hat mit einer Inschrift, in welcher er der „Fürst unter den Kennern des römischen Rechtes“ genannt wird.

Contardo Ferrini verkündete seine Forschungsergebnisse zu einer Zeit, da die gesamte Jurisprudenz nur dem „positiven“ Rechte huldigte. S a v i g n y und seine Schule leugnete im „System des römischen Rechtes“ das Naturrecht für menschliche Gemeinschaften, die als Fiktionen erklärt wurden, die der' Staat willkürlich schaffen und aufheben kann; Otto Gierke entzog auch dem Einzelindividuum den naturrechtlichen Charakter. In Berlin war Ferrini selber in der Schule Savignys gewesen.

Während im weltlichen Recht bis zum zweiten Weltkrieg Gierkes „Genossenschaftsrecht“ mit seiner Lehre von der absoluten Staatsomnipotenz auch im Bereich des Rechts führend war, hat sich im kirchlichen Lager das Gedankengut Savignys bis zum heutigen Tage erhalten. Der zu Weihnachten 1945 verstorbene Grazer Kanonist H a r i n g brachte noch in seinem „Lehrbuche“ die Savigny-Definition, daß die moralischen Personen bloße Fiktionen seien; auf die Gesamtkirche, die doch auch moralische Person ist, angewendet, ergibt das eine ungeheuerliche Konsequenz. In jüngster Zeit noch schreibt Larameyer, obwohl er die Fiktionstheorie Savignys ablehnt, dennoch: „Bei juristischen Personen handelt es sich um Rechtsgebilde, denen die Rechtsfähigkeit nicht von Natur, sondern erst durch das Gesetz beigelegt ist.“ Gegen diese Irrtümer hat Contardo Ferrini wahrhaft providentiell gewirkt. Er rettete altes, christliches Kulturgut und eine wichtige geschichtliche Wahrheitsbegründung aus der Verdunkelung.

Der Gelehrte war sich dieser Sendung wohl bewußt, wie aus seinen Briefen und SchriftVi gegen den Positivismus hervorgeht. Seit Ferrini macht sich denn auch allenthalben eine Renaissance des Naturrechtes bemerkbar, als Folge der Enzykliken Pius' XL, der klipp und klar feststellte, daß der Rechtspositivismus unvereinbar sei mit einem katholischen Kanonisten.

Das naturgegebene Recht gegenüber dem E i n z e 1 i n d i v i d u u m wird heute in der kirchlichen Literatur kompromißlos zugegeben. Bezüglich der menschlichen G e-meinschaften- ist der Wiener Kanonist Konstantin Hohenlohe zum Verfechter ihrer naturgegebenen Rechtsfähigkeit geworden, in bewußtem Fortschreiten auf dem Wege Contardo Ferrinis. Diese Rolle des österreichischen Gelehrten fand ihre Anerkennung durch die Einladung, an der Festschrift mitzuarbeiten, welche die Universitäten von Mailand und Pavia anläßlich der schon im Jahre 1943 erwarteten Beatifikation Contardo Ferrinis herauszugeben beabsichtigten *.'!'

Auch im weltlichen Rechtsbereich gewinnt das Prinzip des Naturrechtes immer mehr an Boden, besonders nach dem ersten Weltkrieg, der in dem Rufe ausklang, daß unverletzliches Recht habe an Stelle der Gewalt und der Willkür zu treten. An den totalitären Staaten hat man vollends erkannt, wohin ein absoluter Positivismus führen muß. Nur mit dem Rechtspositivismus konnte ein Hitler zum internationalen Wegelagerer werden. Noch mehr hat der zweite Weltkrieg ein bewußtes Abrücken von der schiefen Ebene des Positivismus zur Folge. Nur auf dem Naturrecht läßt sich der Nürnberger Prozeß gegen die Frevler an eben diesem Gesetz inszenieren. Wie ein zweiter Arnobius oder Lactantius hat der Richter Robert R. Jackson in seinem Bericht an den Präsidenten der Vereinigten Staaten ausdrücklich als Grundlage des Nürnberger Prozesses die „Billigkeit“ erklärt und festgestellt, daß er. darin „eine deutlich ausgeprägte Umkehr zu den alten und gesunden Lehrmeinungen“ sieht. Möge die kirchliche Ehrung des Gelehrten von Pavia seinen Ideen vollends zum Siege verhelfen und ein Wort in Erfüllung gehen lassen, das kein Geringerer als Theodor Mommsen ausgesprodien hat: „Was Savigny für das 19. Jahrhundert war, das wird Ferrini für d a s 2 0. sei n.“

*

Contardo Ferrini war am 4. April 1859 zu Mailand geboren worden, der Sohn Rinaldo Ferrinis, eines Professors am Poli-technikum, der wissenschaftlich bekannt ist durch mehrere Werke über Wärme und Eelektrizitätslehre. *Mit siebzehn Jahren inskribierte Contardo in Pavia Rechtswissenschaft. Er promovierte nach vier Jahren mit solchem Erfolg, daß ihm die Regierung ein Stipendium für zwei Jahre weiteren Studiums im Auslande verlieh. Contardo wählte Berlin, dessen juristische Fakultät durch die Schule Savignys damals in großem Ansehen stand. Unter anderem hatte Ferrini Vorlesungen bei Dern-burg, Mommsen und Zachariä belegt. Zachariä lenkte seine Aufmerksamkeit auf das römisch-byzantinische Recht, auf welchem Gebiet sich Ferrini dann Weltruhm erwerben sollte. Als der junge Gelehrte Berlin wieder verließ, gab ihm Erzbischof Förster “ein Empfehlungsschreiben mit, in dem er geschildert wird als „potens iri lingua Germanica et in pietate“. Im November1 1883 habilitierte sich Ferrini in Pavia als Privatdozent für Geschichte des römischen Rechtes und erhielt im Jahre 1S94 die Berufung als Ordinarius. Auch in dieser Stellung, die ihn mit allem Komfort des modernen Lebens umgab und zu einem der gefeiertsten Gelehrten der Welt machte, blieb er seiner Gewohnheit, dem täglichen Besuch der Messe treu, immer das leuchtende Beispiel eines tiefgläubigen Mannes. 1900 hatte sich infolge Überarbeitung ein sdiweres Herzleiden eingestellt, dem er am 17. Oktober 1902 auf seinem Landhause in Suna erlag, erst 43 Jahre alt.

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