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Der Widersacher

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Wenn es Bertram D. Wolfe nun unternommen hat, in seinem Buch .Drei Männer, die die Welt erschütterten“ , die Lebensgeschichte Lenins, Trotzkis und Stalins zu erzählen, bis zum Ausbruch der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ (1917), so muß dieses Unternehmen bei allen orthodoxen Kommunisten und insbesondere bei allen Sowjet- menschten auf schärfsten Widerspruch stoßen, auch wenn sich der Autor, sine ira et Studio, Historiker, Soziologe und Biograph in einem, um nichts anderes bemüht, als auf Grund einer glänzenden Beherrschung der Literatur und zum Teil noch nicht ausgeschöpfter Quellen im Bild seiner drei Helden die Vorgeschichte der russischen Revolution packend und erregend darzustellen. Dies ist ihm gewiß gelungen, und der westliche Leser wird aus dem Buch, das Wesentliches zum Verständnis der Entwicklungen seit 1917 bis heute beiträgt, eher Sympathie für die drei Persönlichkeiten herauslesen als feindselige Voreingenommenheit.

Aber schon allein der Umstand, daß auch der Gestalt Trotzkis ein breiter Raum gewidmet ist, muß bei Kommunisten leidenschaftlich Ablehnung hervorrufen. Denn der Ti ame Trotzki darf nicht genannt werden; und wenn, so nur als der des Verräters, des Widersachers, des Bösen. — Da er entscheidende Jahre im Westen verbrachte, steht aber gerade für ihn reichliches Quellenmaterial Zur Verfügung, so daß dem Autor ein buntes, lebensnahes Bild gelingt. Das gleiche gilt für die Gestalt Lenins. Nur schade, daß der Attor die interessanten Berichte des Schweizer religiösen Sozialisten Leonhard Ra- gaz, der beiden wiederholt begegnete, nicht berücksichtigt!

Ein gleich lebendiges Bild von Stalin zu zeichnen, war dem Autor aus den gezeigten Gründen nicht möglich, obwohl er sich bemüht, von den übermalten Fragmenten Offizieller upd halboffizieller Herkunft Schicht um Schicht abzutragen und daraus ein . Mosaik zu bilden. Kommt dieses der Wirklichkeit näher als der Mythos? An seine Stelle hätte eine Darstellung der Ideologie treten können, von derenHintergrund sich die Gestalt Stalins abhebt. Wohl widmet Bertram D. Wolfe ein Kapitel seines Werkes dem Thema Lenin als Philosoph“, aber eine kritische Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus ist auf 25 Seiten kaum möglich, und sie liegt auch nicht in der Absicht des Autors. Das eben erschienene Werk von Gustav A. Wetter S. J.: „Der dialektische Materialismus, seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion“ (Herder), die erste ernst zu nehmende kritische Darstellung der offiziellen Philosophie der Sowjetunion, der Lehre, die Richtschnur für alle Entscheidungen der inneren und äußeren Politik ist, kann den Leser in das Verständnis des kommunistischen Denkens und damit der geistigen Hintergründe der heutigen Weltsituation einführen. Zum Verständnis des Stalin-Mythos und der Person Stalins ist das Studium dieses Werkes unerläßlich.

Wer unsere Epoche verstehen will, kommt um die Person Stalins nicht herum. Die Geschichte seines Lebens ist reich an paradoxen Situationen und „dialektischen“ Widersprüchen. Stalin trieb die Barbarei mit barbarischen Mitteln aus. Die positiven Ergebnisse seines Werkes werden ihren Schöpfer überdauern.

Die Produktionskapazität, die 1930 noch nicht einmal an die eines europäischen Mittelstaates heranreichte, wurde so rasch und umfassend erweitert, daß die Sowjetunion heute die erste Wirtschaftsmacht Europas und die zweite der Welt ist. In wenig mehr als zwanzig Jahren verdoppelte sich die Zahl der russischen großen und mittleren Städte, trotz der ungeheuren Zerstörungen des Weltkrieges. Das ganze Land wurde in die Schule geschickt. Der Drang nach Wissen, das Interesse für Naturwissenschaft und Kunst wurden durch Stalins strenges Regiment derart angereizt, daß manchmal der Eindruck entsteht, dieser Eifer sei unersättlich. Er tyrannisiert die lebenden Dichter, Romanschriftsteller, Geschichtsschreiber, Maler usw., aber den Namen Toter bezeugte er große Pietät, auch wenn ihre Werke an der Tyrannei vergangener Zeiten in einer Weise Kritik übten, die sich ohne weiteres auch auf das stalinistische System übertragen ließ. Er hat sein Land durch die schwersten Bewährungsproben, durch den zweiten Weltkrieg, allerdings unter fürchterlichen Opfern, erfolgreich hindurchgeführt. Die russische Gesellschaft wurde so gründlich umgebaut, daß eine Restauration des Alten daran ebensowenig ändern könnte, wie die Restaurationen der Stuarts oder der Bourbonen etwas an den gesellschaftlichen Ergebnissen der Revolutionen ändern konnten, die ihnen vorausgegangen waren.

1 Bertram D. Wolfe: „Drei Männer, die die Welt erschütterten („Three who made a revolution“). Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gerda Kautsky-Brunn und Inge Lindt. Danubia-Verlag, Wien 1952, 776 Seiten.

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