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Die richterliche Unabhängigkeit

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In letzter Zeit wurden im Zusammenhange mit einigen vor dem Volksgerichte Wien durchgeführten politischen Strafprozessen mehrfach Anwürfe gegen die österreichische Richterschaft erhoben, die deren Standesvertretung zu einer energischen Resolution ver- anlaßten, in welcher nachdrücklichst für die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit eingetreten wurde.

Es handelt sich dabei um eine Frage, die keineswegs die Richterschaft allein angeht, sondern vielmehr an die Grundfesten des ganzen Staates rührt. Haben wir doch erst in der jüngsten Vergangenheit erfahren, wie weit es kommt, wenn in einem Staatswesen die richterliche Unabhängigkeit beseitigt wird. Es geschah dies im Dritten Reiche im Laufe der Jahre zuerst praktisch, dann aber auch „gesetzlich“, das heißt durch den Willen des „Führen“, welcher die Richter anwies, von nun an nicht mehr nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern nach dem „gesunden Volksempfinden“, das heißt nach den Wünschen der Parteistellen zu entscheiden. Ja, es trug sich sogar zu, daß Gerichtsurteile in Inhalt und Form vom Parteiapparat anbefohlen wurden, der dann auch den Strafvollzug überwachte. Sprach aber einmal ein Gericht einen Angeklagten entgegen den Wünschen der Partei frei, so konnte die Gestapo ihn in „Schutzhaft“ nehmen oder in ein Konzentrationslager schicken.

Es war die bedingungslose Unterwerfung unter die Willkür eines Alleinherrschers, der an kein Gesetz, kein Recht und keine Sitte gebunden war. Während zahlreiche Generationen vor uns gekämpft und geblutet hatten, um die Freiheit der Staatsbürger von der Allmacht absoluter Fürsten zu erringen, blieb es unserer Zeit Vorbehalten, die errungene Freiheit wieder wegzuwerfen und sich für die eigene Versklavung zu begeistern. Man befolgte blind den obrigkeitb’chen Befehl, ohne zu prüfen, ob er nicht etwa unsittlich sei und daher nicht durchgeführt werden dürfe. Man hatte eben schon jedes kritische Urteilsvermögen gegenüber dem Götzen Staat eingebüßt und hatte längst vergessen, daß bereits der heilige Augustinus den Ausspruch getan hatte, daß Staaten ohne Gerechtigkeit nichts anderes seien als große Räuberbanden. In diesen „Unrechtsstaaten“ kann alles, was’die öffentliche Gewalt verfügt, Gesetz, also „Recht“ werden. Nicht mehr dient der Staat der Verwirklichung des Rechtsgedankens, sondern umgekehrt wird alles zum „Recht“, was dem Staate nützt. Die Justiz aber wird unter solchen Verhältnissen zu einem in den Mantel der Gesetzlichkeit gekleideten Henkersknecht der nackten Gewalt.

Die richterliche Unabhängigkeit wird jedoch nicht nur von oben her durch die Inhaber der Staatsgewalt bedroht. Auch von unten her wurde wiederholt der Versuch gemacht, Einfluß auf richterliche Entscheidungen zu gewinnen, vor allem durch demagogische Pressekampagnen und aufrührerische Hetzreden unter den zu Umstürzen neigenden Kreisen der Bevölkerung. Nicht nur ein diktatorischer „Führer“, auch die „Diktatur der Straße“ kann unter Umständen eine ernste Bedrohung objektiver Rechtsausübung darstellen, wofür in Österreich die Inbrandsetzung des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 ein warnendes Beispiel darstellt.

So haben die Erfahrungen der letzten Jahre die Richtigkeit der Lehre Montesquieus erwiesen, daß die politische Freiheit des einzelnen Staatsbürgers nur durch die T r e n- nung von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung gesichert ist. „Alle wäre verloren“, meint Montesquieu einmal im „Esprit des lois“, „wenn alle drei Gewalten in der Hand eines einzelnen Menschen, derselben Körperschaft von Fürsten, von Adeligen oder aus dem Volke vereint wären: nämlich die Macht, Gesetze zu geben, die öffentlichen Beschlüsse auszuführen, die Verbrechen oder Streitigkeiten der einzelnen zu schlichten.“

Überall dort, wo gegen diese Grundsätze verstoßen und die Gerichtsbarkeit der Willkür eines Despoten oder dem Terror der Volksmassen ausgeliefert wurde, ist immer zugleich auch die Freiheit des einzelnen vernichtet und die Gerechtigkeit beseitigt worden. Allerdings kann auch trotz dem Bestehen einer unabhängigen Rechtsprechung im Einzelfalle eine Rechtsbeugung stattfinden. Denn auch die Richterschaft besteht nur aus unvollkommenen Menschen, welche wie alle Sterblichen nicht frei von Fehlern und Irrtümern sind, doch können Fehlurteile durch gründliche fachliche Ausbildung der jungen Riclfer, durch entsprechend strenge Auswahl unter den Bewerbern zum Richteramt und schließlich durch das Institut der Rechtsmittelinstanzen auf ein Mindestmaß eingeschränkt werden.

Mag nun aber auch bei der Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit eine Rechtsbeugung gelegentlich Vorkommen, so handelt es sich dabei doch immer nur um Aus- nahmen, während in den Staaten allgewaltiger Despoten wie in den Ländern der Pöbelherrschaft die Rechtsbeugung zur Regel, zum Prinzip erhoben ist. Denn hier wird von vornherein niemals nach Recht und Gerechtigkeit entschieden, sondern nach dem willkürlichen Befehl eines „Führers“ oder dem blutdürstigen Ruf „Ans Kreuz mit ihm!“, den irgendein tobender Haufen gegen einen mißliebigen Mitbürger ausstößt.

In einem Rechtsstaate dagegen ist grundsätzlich jede Willkür bei der Ausübung der Gerichtsbarkeit ausgeschlossen. Denn auch der Richter ist nicht unbeschränkter Herr seiner Entscheidungen, sondern stets an das Gesetz gebunden. Allerdings beschränkt sich die Aufgabe des Richters keineswegs auf die bloße Subsumtion bestimmter Tatbestände unter die Gesetzesnormen, so daß der einzelne Rechtsfall nicht lediglich wie eine Art „Rechenexempel“ zu lösen ist. Schon Zeiller, der Redaktor des ABGB, hat mit bitterer Ironie die Vorstellung zurückgewiesen, als ob der Richter nichts anderes wäre als eine „rechtsprechende Maschine“, und forderte dagegen „denkende und zu denken fähige Richter“. Er üiberließ es darum auch in § 7 ABGB dem Richter, in jenen Fällen, wo da Gesetz eine Lösung nicht vorgesehen hat, selbst auf Grund der „natürlichen Rechtsgrundsätze“ eine Entscheidung zu finden. Doch kann auch hier der Richter nicht etwa nach subjektivem Ermessen entscheiden; es waren vielmehr die „natürlichen Rechtsgrundsätze“ vom Gesetzgeber als ein System von Rechtsnormen gedacht, die zwar im Gesetzbuch nicht ausgesprochen sind, aber doch als allgemein anerkannte Rechtslehre ebenso ein objektives Maß des menschlichen Wollens darstellen wie die Vorschriften des Gesetzbuch selbst, dessen generelle Norm der Richter durch sein Urteil individualisierend fortbildet und ergänzt.

Auch hat der unabhängige Richter gerade in der heutigen Welt der allgemeinen Freiheitsbedrohung noch eine ganz besondere Mission zu erfüllen. Ist er doch fast allein frei und selbständig geblieben, mitten in einer Zeit, welche es sich zur besonderen Aufgabe gemacht hat, jede freie Persönlichkeit auszulöschen und jedermann zum willfährigen Handlanger einer „Vorgesetzten Stelle“, das heißt zu einem Sklaven zu machen. Wohl gibt es heute noch unzählige Menschen, die, gedeckt durch einen Befehl, auf allen Gebieten hervorragende Spitzenleistungen an Fleiß, Mut, Ausdauer und Erfindungsgabe vollbringen, außerhalb des gewohnten Rahmens von Dienst und Befehl jedoch hilflos wie Kinder sind. Die tüchtigsten und kenntnisreichsten Männer stehen dann gänzlich ratlos da und warten auf den Befehl von oben. Überall hat ein Mangel an Zivilcourage und charakterlicher Tüchtigkeit um sich gegriffen und Schillers Worte „Wir Subalternen haben keinen Willen“ sind zum allgemeinen Glaubensbekenntnis geworden.

Auf diese Weise konnte selbst eine Verbrecherregierung sicher sein, daß ihr von solchen, jeder eigenen Initiative entbehrenden Untergebenen keine. Gefahr drohe. Hier liegt die Wurzel für die zahlreichen Formen des heutigen Byzantinismus, der Keim für die Bedrohu ng des Abendlandes, das nur durch freie Menschen gerettet werden kann und niemals durch noch so viele Legionen serviler Gefolgsleute, die sich morgen dem Teufel ebenso unbedingt unterwerfen, wie sie sich gestern dem Beelzebub rückhaltlos verschrieben haben.

Schließlich gehört das Richteramt auch noch zu jenen wenigen Berufen,. die sich wenig stens nodi einen gewissen Rest eines Z u- sammenhanges mit der natürlichen Schöpfungsordnung bewahrt haben. Denn der Richter ist nicht nur an das Gesetz gebunden, er ist nicht nur seinem Wissen, sondern auch seinem Gewissen verpflichtet. Er fühlt sich nicht als Herr des Rechts, sondern nur als Verwalter der Gerechtigkeit im Namen des Staates, aber schließlich auch i m Namen Gottes, von dem letzten Endes alle staatliche Gewalt, insoweit sie auf Gerechtigkeit gegründet ist, herrührt. Er weiß, daß auch er dem Gericht der ewigen Gerechtigkeit nicht entgehen wird und hütet sich daher, in das Gebet des Pharisäers ein- zufallen: „Gott, wie danke ich Dir, daß ich nicht bin wie die übrigen Menschen, wie die Räuber, Diebe und Ehebrecher oder wie dieser Zöllner da!“ — Er hat sein Amt „nach bestem Wissen und Gewissen“ zu erfüllen, in dem steten Bewußtsein, daß er einst selbst vor einem höheren Richter Rechenschaft abzulegen hat, wenn seine Stunde gekommen ist und der Herr zu ihm spricht: „Gib Rechenschaft von deiner Verwaltung, denn du kannst nicht mehr Richter sein!“ Dann mag er vor Gottes Richterstuhl hintreten als ein Mitglied jenes Ordens von „Friedensrichtern“, den sich Kaiser R u d o 1 f II. im „Bruderzwist“ ausgedacht hat:

„Nicht außen, auf der Brust, trägt man den Orden,

Nein, innen, wo der Pulsschlag ihn erwärmt,

Er sich belebt am Puls des tiefsten Lebens.

Der Wahlspruch heißt: Nicht ich, nur Gott!“

In diesem Satz liegt der tiefste Sinn richterlicher Unabhängigkeit, an die heute zu rühren selbstmörderischer Wahnwitz wäre.

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