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Das Recht der Vermißten

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Die Plebejer sind, zur Verzweiflung gebracht durch die Gewaltherrschaft der Decemvim, der Machthaber der herrschenden Klasse, auf den Möns sacer gezogen, und dort verhandeln nun mit ihnen die Abgesandten des Senats, weise, erfahrene Männer, über ihre Rückkehr. Die Plebejer verlangen unter anderem, daß die Decemvim bei lebendigem Leibe verbrannt werden. Darauf die Abgesandten:

Jene eurer Forderungen, bei denen die Vernunft Pate stand, sind so billig, daß man deren Erfüllung euch aus freien Stücken hätte anbieten sollen. Ihr wollt Ja damit nur Bollwerke für eure Freiheit, nicht für eine Willkürherrschaft, um andere zu bekämpfen. Euren Zorn (gegen die Decemvim) muß man mehr verzeihen als ihn begünstigen, denn aus Haß gegen Grausamkeit verfallet ihr selber In Grausamkeit, und kaum daß ihr noch selber frei seid, wollt ihr schon wieder über eure Gegner eine Gewaltherrschaft ausüben. Wird denn unser Staat niemals mehr Ruhe haben von den Hinrichtungen, welche entweder die Väter gegen die Plebs oder die Plebs gegen die Väter verhängen? ...

L i vi us III. c. 53

Irgendwo In Sibirien oder ist es in Tito-Jugoslawien? — rastet müde über seinen Krampen gestützt, einen Augenblick der Peter Moser, und seine Gedanken wandern heim. Sehnsüchtig, in Schmerzen. Wie mag es der Frau gehen und den Kindern? Leben sie noch? Steht noch das Häusl am Wiesen-rain? Wie lange ist's, daß er es nimmer sah — drei Jahre, vier, fünf. Fast weiß er es nicht mehr. Es ist solange her, eine so grausam lange Zeit. Ein hartes Leben, Gefangener sein im fremden Land. Aber eines Tages wird dieses Elend ein Ende haben und er wird heimkommen — heim! Dem Peter möchten die Augen vor Sehnsucht naß werden, aber er reckt sich auf. Die Hoffnung hält ihn in aller Mühsal und Seelennnot aufrecht.

Es gibt noch Zehntausende solcher Peter Moser. Etwas kaum zu Verstehendes ist inzwischen daheim geschehen. Hoffentlich erfährt er es nicht, der Peter Moser, er würde sonst wahrscheinlich daran zerbrechen [..

Der Oberste Gerichtshof hat in einer Urteilsbegründung ausgesprochen, daß für den Beginn der einjährigen Verschollenheitsfrist, nach deren Verlauf ein Vermißter mit allen Rechtsfolgen für tot erklärt werden kann, nur die tatsächliche Beendigung der Kriegshandlungen — der 8. Mai 1945 —• in Betracht komme und sonach die einjährige Verschollenheitsfrist mit dem 31. Dezember 1945 beginne und am 31. Dezember 1946 ende. Somit könne ein Antrag auf Einleitung des Verfahrens zur Todeserklärung Kriegsvermißter, solcher, von denen seit dem Ende der Kampfhandlungen kein Lebenszeichen vorliegt, ab 1. Jänner 1947 gestellt werden.

Obwohl diese Rechtsmeinung des Obersten Gerichtshofes aus Anlaß eines konkreten Falles ausgesprochen wurde und für die Gerichte nicht als allgemein bindend angesehen werden kann, somit nicht gesagt ist, daß1 allen Eingaben um Todeserklärung fortan wird stattgegeben werden müssen, ist es klar, daß der mit dem Ansehen des höchsten Richteramtes umkleidete Ausspruch in unser Volk und in die Rechtssprechung Verwirrung und auch unabsehbares Unglück zu tragen vermag. Er ist deshalb so unfaßlich, weil es jedermann bekannt ist, daß viele Österreicher, die noch in der Gefangenschaft leben, gar nicht imstande sind, ihren Familien ein Lebenszeichen zu geben und deshalb nach der Beschlußbegründung des Obersten Gerichtshofes in Gefahr sind, für tot erklärt zu werden — mit allen Konsequenzen im Sinne des Gesetzes. Und diese Konsequenzen sind für denjenigen, den eine irrtümliche Todeserklärung trifft, zerschmetternd.

Todeserklärung bedeutet juristisch in voller Bedeutung des Wortes ein Streichen aus der Liste der Lebenden, das heißt, das Vermögen des Vermißten wird nach den Grundsätzen des Erbrechtes verteilt, die Ehefnau kann sich wieder verehelichen, Gewerbeberechtigungen erlöschen und so auch alle persönlichen Anrechte aus früherem Geschäfts- und Anstellungsverhältnis. In den meisten Fällen wird eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn der Totgesagte zurückkehrt, nicht mehr möglich sein. War er verheiratet, so findet er wahrscheinlich Ehe und Familie zerstört und sein Hab und Gut durch die angeblichen Erben, wenn auch in gutem Glauben, zerstückelt und vertragen. In den meisten Fällen wird seine Existenz vernichtet sein. In seiner Stube, in seinem Geschäft sitzt ein anderer, seinen Acker hat ein anderer bebaut — er ist als Störenfried heimgekehrt. Wäre es für ihn nicht besser gewesen, er hätte diese Heimkehr nicht erlebt? Kein Wunder wärs, wenn einer, dem so mitgespielt würde, verzweifelt an einer Rechtsordnung, die solches Unrecht gebiert, sich an ihr vergriffe. Trotzdem ist es geschehen, daß eine oberstrichtliche Bekundung solchem Unrecht gegenüber den Vermißten Tür und Tor öffnet und alle Richter, die diesem autoritativen Ausspruch folgen würden, mit einer außerordentlichen Verantwortung belastet.

Man wird in der Bevölkerung fragen, wie dies geschehen konnte. Leider ist es versäumt worden, das deutsche Verschollenheitsgesetz durch die Wiederherstellung der Geltung des humaneren österreichischen Rechtes für Todeserklärungen zu ersetzen. Die bisherige, auf dem deutschen Verschollenheitsgesetz fußende Rechtspraxis hat dessen 4/1 so ausgelegt, daß Anträge auf Todeserklärung kriegsvermißter Personen erst ein Jahr nach dem Friedensschluß mit Erfolg gestellt werden können. Das Gesetz spricht allerdings davon, daß auch das tatsächliche Ende der Kampfhandlungen als Beginn der Verschollenheitsfrist angesehen werden könne. Das kann nicht den Sinn haben, daß nach Belieben die Lauffrist verschieden berechnet werden könne, sondern, daß in Fällen, wo nach der Art der stattgefundenen Kämpfe kein Friedensschluß, sondern nur das tatsächlich Ende der Kampfhandlungen zu erwarten ist, wie zum Beispiel bei Partisanenkämpfen — oder wie es bei den Ereignissen in Franco-Spanien war — subsidiär die Fristenberechnung nach dem letzteren Termine zu erfolgen hat, weil eben der normale Abschluß des Krieges, der formelle Friedensschluß fehlt.

Für die Kriegsgefangenen aber ist die Debatte um „Friedensschluß“ oder „Ende der Kampfhandlungen“ und was die Meinungen der Juristen der Heimat aus mehr oder weniger konstruktiven Erwägungen heraus als das Ende des Krieges bezeichnen, belanglos. Für sie ist weder formell noch materiell der Krieg zu Ende. Für sie endet der Krieg erst mit der Entlassung in die Heimat oder durch den Abschluß des Friedens- oder Staatsvertrages ihres Heimatstaates mit der Macht ihrer Gefangenschaft. Für sie, die Abwesenden, die Schwächeren, die nicht selbst ihr Recht schützen können, hat indessen die Rechtsordnung der Heimat zu sorgen und hier haben die 'Gerichte, denen durch 21, ABGB, der besondere Schutz der Abwesenden anvertraut ist, bis zur äußersten Grenze des Möglichen zu gehen. Das muß um so klarer sein, als es sich nicht um wenige ungewisse Einzel-schicksale, sondern um eine sehr große Zahl von Menschen handelt, die noch leben, wenn wir auch nicht wissen, ob noch dieser oder jener unter ihnen ist. Bisher schon hat es sich gezeigt, wie gefährlich unter den bestehenden Umständen Todeserklärungen sein würden, wenn von Seiten der Gerichte nicht Vorsicht geübt würde. Wiederholt ist es in den letzten Monaten geschehen, daß Familien, deren Antrag auf Todeserklärung von kriegsvermißten Wehrmachtsangehörigen von den Gerichten zurückgewiesen worden war, später froherleichtert sich meldeten und für die erfolgte Zurückweisung ihre Antrages dankten, denn es sei nun doch eine Nachricht von dem Vermißten oder sogar er selbst eingetroffen.

Der Ausspruch des Obersten Gerichtshofes kann nur aus dem Wunsche verstanden werden, die Notlage vieler Familien abzukürzen, die durch die lange Verschollenheit ihrer Ernährer entstanden ist. Für die Familie eines Gefallenen gibt es Steuerabzüge, Gefallenenrenten, Kinderzuschüsse, Witwenpensionen, für die des Vermißten versagt die Fürsorge des Staates. Ohne sich klar zu werden, welche Folgen sie vielleicht für den noch lebenden vermißten Familienvater heraufbeschwören, nur in dem Wunsche, sich Erleichterune',n zu sichern, die andere genießen, betreiben die Angehörigen die Todeserklärungen. Da das geltende Recht für die gegebenen' außerordentlichen Verhältnisse nicht ausreichte, wären zivilrechtliche und soziale Maßnahmen mindestens für die kinderreichen Familien am Platze gewesen und sie sind es noch. Bis der Staatsvertrag für Österreich abgesehlossen sein, die Rechtswirksamkeit erreicht haben und die Heimkehr der letzten Gefangenenstaffeln beendigt sein wird, werden uns allen und zumal den Wartenden lang erscheinende Monate vergehen. Den Härten, die sie enthalten, dem Unglück, das sie bei einer Rechtsinterpretation im Sinne des Obersten Gerichtshofes hervorbringen können, soll begegnet werden. Unsere Rechtssprechung wird es verhüten müssen, daß die Opfer schwerster Schicksale, die der Verbindung mit ihrer Familie entrissenen Gefangenen, die sich in ihrer Not und Verlassenheit heute noch aufrechterhalten, nicht zuletzt durch ihren 'Glauben an die Heimat, ihre Lieben und ein unumstößliches Recht, bei ihrer Heimkehr durch eine voreilige Todeserklärung etwa alles zerstört finden, w-is ihnen das Leben wieder lebenswert machen soll. Was den Obersten Gerichtshof betrifft, so würde er seinem Amte, seit alters her Hüter und Weiser des Rechtes zu sein, einen Dienst tun, würde er eine Form finden, seine Fehlmeinüng ohne Zeitverlust zu revidieren.

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