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Klare Sicht im fernen Osten

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Für die Geologie gilt seit jeher der Ostrdnd des Pazifischen Ozeans als das am meisten durch Erdbeben gefährdete Gebiet der Erde. Für die Weltpolitik hingegen war es in den letzten Jahren sein Westrand. Syngman Rhee kann sich mit der Zweiteilung Koreas nicht abfinden; er spielte lange Zeit hindurch mit dem Gedanken, mit einem genau berechneten „Zufall“ einen neuen Konflikt auszulösen, um die Vereinten Nationen ein zweites Mal zu einem Krieg gegen Rotchina zu zwingen. Tschiangkaischek in Formosa zeigte sich wohl etwas vorsichtiger, aber vor einigen Wochen mußte Präsident Eisenhower den Unterstaatssekretär Robertson vom Staatsdepartment eiligst zu ihm entsenden, um ihm das Versprechen abzunehmen, keinen Angriff aus Formosa gegen das Festland zu unternehmen. Auch Tschiang wiegte sich nämlich in der Hoffnung, daß ihm hernach Amerika, wenn auch unwillig, helfen müßte, dort zumindest festen Fuß zu fassen.

Die amerikanische Politik Rotchina gegenüber ließ den Gegner im unklaren darüber, wo für Washington die Grenzen des Tragbaren liegen und in welchem Falle es zum Gegenhieb ausholen würde. Inmitten der hierdurch hervorgerufenen Unsicherheit stand bloß so viel fest, daß ein etwaiger neuer Vorstoß gegen Südkorea oder ein Angriff auf Japan sofort mit allen Mitteln bekämpft werden würde; ferner steht Formosa schon seit Jahren unter dem Schutz der amerikanischen Flotte (allerdings auf Grund eines Befehls, der im Zusammenhang mit der Kriegführung in Korea erlassen worden war und daher einer Klärung bedurfte). Wie sich aber Amerika verhalten würde, wenn Rotchina nicht die Hauptinsel Formosa oder die ihr vorgelagerten Fischer-Inseln angreifen würde, sondern die Kette von kleinen Inseln, die unmittelbar vor- dem asiatischen Festland liegen, das wußte man bis zum Artillerieduell bei Quemoy nicht.

Nun ist Unsicherheit ein gefährlicher seelischer Zustand, der zu unüberlegten Handlungen verleiten kann — einen Staat ebenso wie den einzelnen. Daher war es besorgniserregend, daß Washington sich weder mit England über eine gemeinsame Fernostpolitik einigen konnte, noch mit der Regierung in Formosa eine gemeinsame Verteidigungstaktik ausgearbeitet hat. In diesem Gesichtswinkel ist der Abschluß eines Defensivpaktes — den sich Tschiangkaischek freilich anders vorgestellt haben mag — ein wertvolles Plus gegenüber der bisherigen Lage, aber nur auf der Ebene der Tagespolitik. Dort dürfte sie nämlich eine erfreuliche Entspannung zwischen Washington und London, möglicherweise sogar zwischen Rotchina und dem Westen, bringen. Im weiteren Verlauf muß aber die neue Politik Washingtons in eine weltpolitische Sackgasse führen, denn sie will eine Lage verewigen, die voll von inneren Widersprüchen ist.

Die große Gefahr für die Tschiangkaischek- Regierung ist nämlich gar nicht die Möglich-keit eines offenen Angriffes vom Festlande — obwohl schon der Pekinger Sender diesen immer wieder als unmittelbar bevorstehend bezeichnet. Das Regime Tschiangkaischeks ist gegen diesen fortab geschützt, aber es wird jeden Tag etwas mehr von innen her ausgehöhlt. Die Armee kann sich aus dem natürlichen Zuwachs der Inselbevölkerung (8 Millionen Menschen) nur sehr wenig erneuern, und Veteranen aus dem letzten Krieg ergeben keine schlagkräftige Armee Das aber wissen die Offiziere und Soldaten, und außer einigen wenigen Politikern, die sich in Taipeh einen neuen Daseinszweck zurechtzimmern konnten, müssen die nach Formosa geflüchteten Leute sich fragen, wie einmal ihr weltpolitisches Schattendasein zu einer staatsrechtlichen Wirklichkeit werden soll. Noch fragwürdiger muß ihnen ihr weiteres Schicksal erscheinen, weil vom Festland neue Schlagworte nach Formosa dringen und sich bei immer mehr Flüchtlingen auszuwirken beginnen. Sie vernehmen in allen Tonarten, daß es dem chinesischen Volk auf dem Festland gar nicht so schlecht geht. Gewiß sind diese Rundfunksendungen sorgfältig ausgefeilt und stellen das Leben im neuen China in den denkbar schönsten Farben dar. Aber ebenso sicher ist es, daß in Rotchina allmählich Ordnung einzieht, was dort seit Menschengedenken nicht der Fall war. Schon unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Kuomintang im Jahre 1947, also zu einem Zeitpunkt, wo es auf dem Festland noch zahlreiche westliche Beobachter, diplomatische Vertretungen, Kaufleute, Missionäre gab, hörte man übereinstimmend, daß die chinesische Be völkerung die roten Truppen rasch zu schätzen begann. Vor allem war sie maßlos darüber erstaunt, daß diese nicht plünderten, da ja dies in China mit dem Begriff der Soldateska so eng verbunden war, wie etwa bei uns die Staatsbürgerschaft mit dem Stimmrecht (nur wer nicht will, übt es nicht aus ). In letzter Zeit haben mehrere Gruppen westlicher Staatsmänner und Handelsabordnungen wie auch einige Journalisten, die bestimmt keiner Zuneigung zum Bolschewismus verdächtig sind, Rotchina besucht und auf Grund von, freilich nur oberflächlichen, Beobachtungen festgestellt, daß die Bevölkerung zufrieden ist, weil sie nicht mehr hungert — und darüber hinaus sich vorerst keine Gedanken macht.

Das Tschiangkaischek-Regime in Formosa gleicht in weltpolitischem Sinne immer mehr einem Wagen, dessen Motor während der Fahrt eine Panne erlitt: er rollt noch, aber nur dank einem Impuls, der sich nicht mehr erneuert. Mit solch einem Fahrzeug wird aber Washington sein weltpolitisches Fernziel in Ostasien bestimmt nicht erreichen! Daher kann man den neuen Pakt mit Taipeh nur als Zwischenlösung werten, bis es England gelingen wird, Amerika zu einer Aenderung seiner Haltung gegenüber Rotchina zu bewegen, um von der Politik der Fiktionen zu einer realistischen Beurteilung der Lage zu gelangen. Daß aber diese Umstellung in Washington ruhig vor sich gehen kann, ohne daß in Ostasien immer wieder Kriegsgefahr entsteht, ist auch ein wertvoller Gewinn für den Weltfrieden.

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