7102937-1995_18_22.jpg
Digital In Arbeit

Schreiben von Tagebüchern im Getto als religiöser Akt

Werbung
Werbung
Werbung

Gäbe es eine umfassende Darstellung der Kulturgeschichte des Wiener Judentums in der Zwischenkriegszeit, müßte der Schriftsteller und Journalist Oskar Rosenfeld in ihr einen besonderen Stellenwert einnehmen. So aber blieb er in Osterreich vergessen, obwohl nun in Deutschland das außerordentlich bemerkenswerte Tagebuch seiner letzten drei Lebensjahre im Getto Lodz erschien.

Rosenfeld war wie die meisten Wiener Juden zugewandert, wurde 1884 in Mähren geboren und studierte in Wien, wo seine Mutter ein Geschäft für Brautausstattungen auf dem Kohlmarkt besaß. 1908 promovierte er mit einer Dissertation über „Philipp Otto Runge in der Romantik” und widmete sich fortan ausschließlich seinen literarischen und künstlerischen Interessen.

Bereits als Student wandte er sich dem Zionismus zu, den er wie viele junge begabte jüdische Schriftsteller und Künstler im damaligen Mittel-und Osteuropa auch als eine kulturelle Erneuerungsbewegung verstand und mittrug. Er wurde Mitglied des jüdischen Hochschülervereins Theodor Herzl, schrieb für die Jüdische Volksstimme sowie für Herzls programmatische Zeitschrift des Zionismus „Die Welt” und gründete selbst mit einigen Freunden 1904 die jüdische Jugendzeitschrift „Unsere Hoffnung”.

1909 gründete er zusammen mit seinem Freund Hugo Zuckermann die Jüdische Bühne, die im Theatersaal des Hotels Stefanie Singspiele und Melodramen, zeitweise auch ernste Stücke von Schalom Asch und Jakob Gordin aufführte. Zuckermann war übrigens jener zionistische Rechtsanwalt, jungjüdischer Lyriker und Übersetzer von Perez, der im Ersten Weltkrieg 1914 fiel und durch sein österreichisches Rei-'terlied posthum berühmt wurde. In einem Aufsatz in der Zeitschrift „Unsere Hoffnung” beschrieb Rosenfeld die Vorbedingungen, ohne die dieses Theater, in dem die litera-

rischen Bestrebungen der „reifen jüdischen Intelligenz” ihr Zentrum finden sollten, nicht bestehen könnte: „Die jüdische Bühne kann nicht das Werk eines einzelnen sein, weder eines Theaterdirektors, noch eines Finanziers. Es muß das Werk einer großen begeisterungsfähigen Intelligenz sein, der die Entwicklung des jüdischen Kulturbewußtseins am Herzen liegt. Denn eine Bühne wendet sich nicht an einzelne, sondern an die Masse.”

Das Theater wollte auch versuchen, das Leben und die kulturellen Werte des Ostjudentums authentisch darzustellen, was gerade in Wien, wo selbst assimilierte und ihrem kulturellen und religiösen Erbe entfremdete Westjuden oft abfällig auf die zahlreichen ostjüdischen Zuwande-rer reagierten, besonders wichtig war, wie Bosenfeld schrieb: „Die jüdische Bühne macht es sich zur Pflicht, dem Publikum wertvolle Stücke der jüdisch-dramatischen Literatur vorzuführen, das heißt jene Bühnenwerke, die Juden darstellen, jüdischen Geist atmen, jüdische Probleme behandeln. Es kommen vor allem Stücke in Betracht, welche unsere Kenntnis vom Leben jener Juden erweitern und vertiefen, deren Gedanken- und Gefühlswelt infolge der engen Schranken ihres Daseins ein für sich abgeschlossenes, von den westeuropäischen Juden noch unverstandenes Milieu bildet.”

Journalist und Zionist

Nach einigen nur teilweise geglückten literarischen Versuchen und der mehrfach nachgedruckten Erzählung „Mendl Buhig” wurde Rosenfeld in den zwanziger Jahren wieder Journalist. Als Anhänger des großen österreichischen rechtszionistischen und revisionistischen Politiker Robert Stricker, dem Gründer der Judenstaatspartei wirkte er auch als zionistischer Propagandaredner. 1923 wurde er Redakteur der Wiener Morgenzeitung, der einzigen deutschsprachigen zionistischen Tageszeitung, die 1919 von Stricker gegründet wurde und bis 1927 bestand. Als Stricker dann die Wochenzeitschrift „Die neue Welt” gründete,

wurde Rosenfeld ab 1929 ebenfalls deren Redakteur und veröffentlichte dort Theaterkritiken und in späteren Jahren auch viele politische Artikel. Er berichtete regelmäßig über die Vorlesungen jüdischer Dichtungen des berühmten Rezitators und Mitgliedes der Wilnaer Theätertruppe Jehuda Ehrenkranz, über den er schrieb: „Sein Programm umfaßt die unendliche Breite und Tiefe des jüdischen Wesens. Die Dichtungen ... schließen sich zu einem Bild zusammen, das alle Fragen und Rätsel, alle Freuden und Ekstasen, alle Glaubens- und Erlösungsgedanken des ostjüdischen Menschen in sich birgt.”

Jüdisches Theater in Wien

Neben seiner journalistischen Tagesarbeit widmete sich Rosenfeld intensiv dem jüdischen Theater und gehörte 1927 zu den Gründern der Jüdischen Künstlerspiele. Sie etablierten sich im Theater „Reklame” in der Praterstraße und wurden besonders durch die zionistischen Revuen von Abisch Meiseis „Auf nach Tel Aviv”, „Ohne Zertifikat nach Palästina” und „Hallo! Hallo!”, „Hier Radio Jerusalem” bekannt. Außerdem betreute Rosenfeld die Wiener Gastspiele berühmter jüdischer Bühnen wie der hebräischen Habima aus Tel Aviv, der 1916 gegründeten Wilnaer Truppe, deren Aufführung von Anskis „Dibbuk” Weltruhm erlangte oder des Ensembles von Maurice Schwartz, dem Gründer des Yiddish Art Theater in New York und einem der bedeutendsten jiddischen Schauspieler überhaupt. Außerdem übersetzte Bosenfeld in den zwanziger Jahren wie die heute wohl ebenso vergessenen Wiener Kritiker und Autoren Jakob Rosenthal, Siegfried Schmitz und Ernst Müller die klassische jiddische und hebräische Literatur von Men-dele Mocher Sforim, Scholem Alei-chem, Jizhak Leib Perez, Abraham Reisen, Chaim Nachman Bialik und Israel Jehoshua Singer ins Deutsche.

1938 emigrierte er nach Prag, wo er Korrespondent des „Jewish Cho-nicle” wurde. Seiner Frau Henriette gelang 1939 noch die Ausreise nach England, seine eigene Flucht wurde durch den Kriegsausbruch verhindert. Ihre Tochter Eva lebt möglicherweise noch in Australien. Er selbst wurde 1941 in das Getto Lodz verschleppt und im August 1944 wie fast alle anderen Gettobewohner in Auschwitz ermordet.

Das Buch „Wozu noch Welt” zeigt Rosenfeld in einer ganz anderen Rolle, nicht als den feinsinnigen Publizisten und Intellektuellen in Wien, sondern als den peinlich genauen und erschütterten Chronisten des Sterbens der 160.000 bis 180.000 Menschen zählenden jüdischen Gemeinschaft des Gettos von Lodz. Rosenfeld war auch einer der Autoren der offiziellen Gettochronik sowie der im Archiv des umstrittenen Judenältesten Chaim Rumkowski erarbeiteten Enzyklopädie des Gettos.

Daß er daneben auch noch ein ausführliches privates Tagebuch führte, war bislang unbekannt. Bei den Vorarbeiten zu der 1990 in Frankfurt und Wien gezeigten Ausstellung über das Getto Lodz „Unser einziger Weg ist Arbeit” stieß Hanno Loewy, der Leiter des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt, im Yad Vas-hem auf das Tagebuch, das dort in der Form von 21 polnischen Schulheften, zum Teil bereits transkribiert, archiviert war. Zwei Hefte fehlen, drei Hefte wurden vom Herausgeber nur teilweise publiziert.

Dieses Tagebuch ragt aus vielen

Gründen unter vergleichbaren Zeugnissen der Shoah hervor. Denn hier verfolgte ein Intellektueller, ein geistiger, sprachlich artikulierender, sensibler und religiöser Mensch in allen Einzelheiten die größte und grausamste Vernichtung, die seinem Volk jemals widerfahren war. Er beschrieb die erbarmungslose „Entju-dung” Prags, den Hunger und das erzwungene Nichtstun genauso wie die späteren Arbeiten für Deutschland, zum Beispiel die Stickereien für Dirndln, von denen der Judenrat, dessen JTandlungen Rosenfeld ebenfalls genau analysierte, die Errettung erhoffte.

„Was ist jetzt Menschheit?”

Neben Reflexionen über die jüdische Geschichte und Religion, zum Beispiel einer sehr schönen Definition des jüdischen Lernens und vielen Notizen zu unausgeführten Arbeiten, darunter einer geplanten Autobiographie, findet sich auch die scharfsinnige Beschreibung der verbreitesten Gettokrankheit, des Verblassens des Gedächtnisses: „Und arbeitslos hungern hier Ingenieure, Chemiker, Mathematiker, Botaniker, Zoologen, Pharmazeuten, Ärzte, Baumeister, Lehrer, Schriftsteller, Schauspieler, Begisseure, Musiker, Kenner von Sprachen, Verwaltungsbeamte, Bankleute, Apotheker, Handwerker wie Elektriker, Holzbearbeiter, Tischler, Metallfachleute, Tapezierer, Anstreicher, Kürschner, Schneider, Schuster, Wäscheerzeuger, Drechsler, Uhrmacher ... Die Gaben sind vorhanden. Gebt ihnen die Mittel an die Hand, und sie bauen auch Häu-

ser, Villen, Wohnungen, Straßen, Kanäle, Wasserleitungen, Bahnhöfe, Bahngeleise, sie roden Wälder, sägen Bretter, errichten Institute, Spitäler, Universitäten, Laboratorien, Bibliotheken, Lehranstalten, Sternwarten, Küchen und Wäschereien, Werkstätten ... Sie errichten auch Städte und Kolonien mit allen Möglichkeiten des Wachstums und der Schönheit... Sie vermögen ein Werk zu bauen, das vorbildlich sein könnte für viele andere, vornehmlich für jene, die solch ein Werk nicht zulassen ... So werden Werte ausgelöscht, vertilgt, die der Menschheit zugute kommen könnten. Aber was ist jetzt Menschheit'? Die Nerven der Menschen werden zerstört, der Sinn des Lebens verliert sich, keine Philosophie vermag hier zu helfen.”

Bosenfelds Tagebuch zeigt auch, daß in den von den Nazis eingerichteten Gettos und Konzentrationslagern Osteuropas das Schreiben von Tagebüchern und Berichten für die verfolgten Juden ein religiöser Akt war, mit denen sie ihr Leiden, aber auch das geistige Überleben des jüdischen Volkes dokumentieren wollten. Bis heute ist jedoch von diesen Zeugnissen nur ein Bruchteil veröffentlicht und auch die grundlegenden Studien des amerikanischen Historikers David Roskies „Against the Apocalypse” und „The Literature of Destruction” darüber sind im deutschen Sprachraum fast unbekannt.

WOZU NOCH WELT. AUFZEICHNUNGEN AUS DEM GETTO LODZ.

Von Oskar Rosenfeld. Herausgegeben von Hanno Loewy. HUH Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 1994, 323 Seiten, öS 374,-

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung