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Erinnerungen an die alte Jüdische Gemeinde Berlins

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Es hat in Deutschland bis 1933 eine große blühende Jüdische Gemeinde gegeben, die, seit der Emanzipation im 19. Jahrhundert, in fruchtbarer Ergänzung mit der deutschen Bevölkerung lebte, bis in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts antisemitische Tendenzen immer mehr an Boden gewannen und schließlich, mit der Übernahme der Regierung durch Hitler, die große Katastrophe des Judentums ihren Lauf nahm.

Berlin war einstmals ein Mittelpunkt deutschen, ja ein Weltzentrum jüdischen Lebens. Zur dortigen Jüdischen Gemeinde gehörten 1933 172.000 Mitglieder, von denen viele in den Bereichen der Kultur und Wissenschaft, in Politik und Wirtschaft, eine bedeutende Rolle spielten. 70 Prozent der Berliner Juden sind während des Hitler-Regimes ausgewandert, 35.000 Juden wurden deportiert und in den Vernichtungslagern des Dritten Reiches ermordet; viele begingen auch Selbstmord. Nur ein ganz geringer Teil der Berliner jüdischen Bevölkerung konnte untertauchen, manche wurden durch ihre „arischen“ Ehepartner geschützt und gerettet.

Diese wenigen Uberlebenden bildeten den Grundstock der gleich 1945 neu konstituierten kleinen Jüdischen Gemeinde Berlins, die, vermehrt um Zurückgewanderte, heute wieder einige Tausend Mitglieder zählt und eine reiche kulturelle und soziale Tätigkeit entwickelt.

Zum 25. Jubiläum der Wiedererrichtung der Berliner Jüdischen Gemeinde legt nun ein Freundeskreis ehemals in der Stadt beheimateter Juden eine Festschrift vor, in der ungemein interessante Beiträge über „die große Tradition von Religion und Humanität, Wissenschaft und sozialem Gewissen, Weltbürger-lichkeit und Toleranz“ der deutschen, speziell der Berliner jüdischen Bevölkerung, berichten. In den Essays des ersten Teils des Buches ist unschätzbares historisches Material zusammengetragen, um so wertvoller, als es von einer unwiederbringlich versunkenen Epoche handelt, die hier nun im Rückblick nacherlebt werden kann.

Einige Aufsätze befassen sich mit den Assimilierungsbestrebungen eines großen Teils der deutschen Juden nach der Emanzipation, die manchmal Formen eines beinahe chauvinistischen Patriotismus annahmen, zum Beispiel in der jüdischen Reformgemeinde. Man erfährt weiter von den verschiedenen religiösen und ideologischen Richtungen innerhalb der Jüdischen Gemeinde, von jüdischer Sozialarbeit in großem Umfang, die dann besonders im Dritten Reich, im Rahmen der noch verbleibenden Möglichkeiten, vielen Juden, nicht zuletzt den hilflosen Alten, ihr bitteres Schicksal vor der Deportation zu erleichtern versuchte.

Später, als die Situation der deutschen Juden immer aussichtsloser wurde, hat die Jüdische Gemeinde auch sehr aktiv die Auswanderung gefördert, besonders ihre jungen Mitglieder für ein Leben in der Emigration beruflich geschult.

Im zweiten Teil des Buches werden verschiedene bedeutende jüdische Persönlichkeiten mit Gedenkartikeln geehrt, unter ihnen die bekannten Berliner Rabbiner Baeck und Galliner. Curt Wilk erzählt von Berlins einstigen Synagogen, die fast alle in der Kristallnacht, der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober 1938, niedergebrannt wurden. Zwei der alten Synagogen sind inzwischen wiedererstanden. Einen besonders schönen und bewegenden Beitrag liefert Felix Hirsch mit seinen Erinnerungen an das Haus Minden, das „den Versuch einer deutsch-jüdischen Symbiose in der Zeit vor 1933 symbolisierte“.

In den Rückblicken ehemaliger Juden — sie werden durch einen umfangreichen Bildteil ergänzt — zeichnet sich ebenso Anhänglichkeit wie Trauer ab, kaum aber je Haß auf das Land, das sich so schwer am Judentum vergangen hat. Selbst Robert M. W. Kempner, bekannt durch seine Rolle im Nürnberger Prozeß, der hier über das dunkle Kapitel der Ermordung von 35.000 Berliner Juden und über die Berliner Judenmordprozesse berichtet, vergißt in diesem Zusammenhang nicht, der wenigen Deutschen zu gedenken, die unter Einsatz des eigenen Lebens in der Hitler-Zeit Juden beherbergten, und er erwähnt „unzählige Arbeiter, die ihre jüdischen Kameraden in . der Rüstungsindustrie... über Meldungen der ,Feindsender' zu informieren und vor dem weiteren Unheil zu warnen suchten“.

Das Buch geht gewiß nicht nur die Juden an. Im deutschen und österreichischen Leser muß es Trauer, Scham und heilsame Schuldgefühle auslösen. Man lese es, aus Verpflichtung, die Vergangenheit nicht zu vergessen, aber auch um der Gegenwart willen. „Keine Realität ist wesentlicher für unsere Selbstverge-wisserung als die Geschichte“, hat Jaspers einmal gesagt.

GEGENWART IM RÜCKBLICK. Festgabe für die Jüdische Gemeinde zu Berlin 25 Jahre nach dem Neubeginn. Herausgegeben von Herbert A. S trau ss und Kurt A. Grossmann. 375 Seiten. Lothar-Stiehm-Verlag, Heidelberg.

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