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Eine Nacht des Hasses

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Es war eine Nacht des Hasses. Sie erhielt den verhöhnenden Namen „Reichskristallnacht“. Für die Katholische Aktion ein Anlaß, zur Selbstbesinnung aufzurufen.

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Es war eine Nacht des Hasses. Sie erhielt den verhöhnenden Namen „Reichskristallnacht“. Für die Katholische Aktion ein Anlaß, zur Selbstbesinnung aufzurufen.

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In der Nacht vom 9. November 1938 brannten auf Befehl der nationalsozialistischen Machthaber die Synagogen. Jüdische Friedhöfe wurden geschändet, Geschäfte und Wohnungen jüdischer Mitbürger geplündert, sie selbst mißhandelt, verschleppt, erschlagen. In Wien wütete der Judenpogrom in besonders grausamer Weise. Seine Feuersäulen bezeichnen den bis dahin größten Gewaltausbruch des nationalsozialistischen Judenhasses. Der Pogrom ebnete den Weg in den Holokaust.

Doch anders als die planmäßige Judentötung in den Konzentrationslagern fanden die Verwüstungen jener Nacht, die den verhöhnenden Namen „Reichskristallnacht“ erhielt, öffentlich statt. Was damals geschah, geschah vor vielen Augen. Was den Juden aus Haß angetan wurde, hat man gesehen. Doch fast niemand half, die meisten Menschen sahen weg— sei es aus Gleichgültigkeit oder verängstigt vom Nazi-Terror der Monate seit dem „Anschluß“, sei es aus unverhohlener Schadenfreude oder geprägt von antijüdischen Vorurteilen. Dieses Stillhalten half den Machthabern: sie erfuhren, welche Verbrechen sie wagen konnten, ohne Widerstand zu riskieren.

Auch die meisten Christen haben damals geschwiegen. Haß und Verfolgung der Nazis begannen sich bereits gegen die Kirche zu richten. Aus, Sorge um das Schicksal der Kirche blieben auch die Bischöfe stumm. Unser Schweigen als Christen belastet bis heute als bedrückende Schuld das Verhältnis zu den Juden. Wir sind beschämt und trauern darüber.

Bei der Erinnerung an die Gewaltausbrüche der Novembernacht 1938 darf es nicht darum gehen, die Generation der damals Lebenden selbstgerecht anzuklagen. Das Klima jenes Nazi-Terrors, wie er sich auch in der Erstürmung des Wiener Erzbischöflichen Palais am 8. Oktober 1938 manifestiert hatte, haben die meisten der heute Lebenden nicht mehr erfahren. Wir dürfen uns keine Richterrolle anmaßen und nicht „Versagen und Schuld jener Tage einzelnen oder bestimmten Gruppen aufrechnen — wir wissen doch zu gut, wie leicht die moralische Gebrechlichkeit des Menschen.ihn freiwillig oder unfreiwillig in eine Schuld verstricken läßt“ (Erzbischof Dr. Karl Berg).

Das entsetzliche Verbrechen der Judenvernichtung ist vpm nationalsozialistischen Rassenwahn geplant worden. Den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dieser menschenverachtenden Ideologie und dem Christentum hat die katholische Kirche frühzeitig und nachdrücklich betont. Das enthebt uns aber nicht der Aufgabe, nach allen Gründen des damaligen Schweigens von Chri-*sten der Judenverfolgung gegenüber zu fragen. Wir müssen uns in aller Klarheit erinnern, um den Kreislauf der Verdrängung alter Schuld zu vermeiden und für unser eigenes konkretes Leben von heute zu lernen.

Wenn es auch keine,.Kollektivschuld“ geben kann, so müssen wir Christen doch bereit sein, in solidarischer Haftung das mitzutragen, was als Last auf der Gemeinschaft liegt. Wenn die Generationen von heute auch nicht an dem Geschehen von damals beteiligt waren, so sind wir doch nicht berechtigt, eine schuldhafte Vergangenheit zu verschweigen oder zu verdrängen.

Mit Schmerz sehen wir heute, daß - jenseits aller Glaubensunterschiede — auch die christlichen Kirchen an der langen Geschichte der Entzweiung von Christen und Juden beteiligt waren. Jahrhundertelang war es auch das Christentum, das durch eine irrige Bibelauslegung antijüdische Vorurteile verschärfte. In der NS-Zeit trugen die traditionelle Haltung der Ablehnung und die Ge-sprächslosigkeit zwischen Christen und Juden dazu bei, daß bei den meisten Christen kein Widerstandswille gegen die Judenvernichtung entstand. Jenen Christen, die anders handelten — zum Teil mit dem Opfer ihres eigenen Lebens -, gilt unsere Bewunderung.

Doch sie sind Ausnahmen. In der Regel war die Kirche damals bemüht, einen auch noch so kleinen Freiraum zu bewahren, um ihren Glauben unverkürzt verkünden zu können. Daß aber gerade das Schweigen in der Judenfrage diesen Glauben verkürzte und verletzte, war damals nur wenigen bewußt.

Umso mehr müssen wir heute, nach der Hinwendung der Kirche zum Judentum in der Konzilserklärung „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanums, jeglicher Form des Antisemitismus entgegenwirken. „Es widerspricht der Lehre Christi“ — so formulierte die Wiener Diözesansynode 1971 -, „die den Juden durch Jahrhunderte von Christen und Nichtchri-sten zugefügten Leiden und Demütigungen als Verstoßung durch Gott zu deuten. Daher müssen sich alle Christen von antijüdischen Affekten freihalten und etwaigen antisemitischen Diskriminierungen seitens anderer entgegentreten.“

Um diesem Ziel gerecht zu werden, bedarf es auf christlicher Seite noch vieler Anstrengungen — der Bildung und vor allem der Begegnung von Mensch zu Mensch. Die Zeit, so erkennen wir, hat keineswegs alle Wunden geheilt. Nicht alle Fehlhaltungen sind schon verschwunden.

Bei sich selbst beginnen

Doch eine Erinnerung, die zu Selbstbesinnung führt, öffnet Wege der Umkehr und Buße und damit Wege zu einer Aussöhnung in der Begegnung. In diesem Sinne kann es ohne Erinnerung keine Versöhnung geben. In der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit einen „Schlußstrich“ zu fordern — und sei es in guter Absicht —, wäre nur ein neuer Akt der Verdrängung. Wer die Fehler anderer, nicht aber die eigenen sieht, wird sich als Christ von der Last der Vergangenheit ebensowenig befreien können, wie der, der als Bedingung eigener Verhaltensänderung ein verändertes Verhalten anderer Menschen verlangt. Es kommt einzig darauf an, mit dem Wandel bei sich selbst zu beginnen. Daher trauern wir an diesem Tag des Gedenkens um die ermordeten Juden, um das unsagbare Leid der Uberlebenden, um die Verwüstung der jüdischen Kultur, um die von uns kaum nachvollziehbare Verletzung des jüdischen Glaubens an den Mitmenschen.

Christen und Juden verbindet die Hoffnung auf das Reich Gottes. Diese Gemeinsamkeit muß sich auch in unserem Land konkretisieren: in der Arbeit für Gerechtigkeit, für Frieden und Freiheit und für die unbedingte Achtung des Lebens und die Bewahrung der Schöpfung.

Fünfzig Jahre nach der Zerstörung der Synagogen und am Ende eines für Österreich bewegenden und herausfordernden Gedenkjahres bitten wir Gott, daß Christen und Juden ihren Weg in die Zukunft bei voller Achtung ihrer Verschiedenheiten gemeinsam gehen können.

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