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Was wäre der Film ohne die Ungarn?

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23. JÄNNER 1956: Eine der größten Zeitungen der Welt hält die Rotationsmaschinen an eine Todesnachricht muß noch aufgenommen werden. Kein Politiker von Rang, kein bedeutender Wirtschaftsführer, Kirchenfürst oder Künstler ist gestorben — nur ein Mann vom Film, von dessen Geburt, 62 Jahre zuvor, noch nicht einmal ein Lokalblatt Notiz, genommen hatte. Er war unter bescheidenen Verhältnissen Reporter einer Budapester Zeitung gewesen, ging dann mit seinen Brüdern zum Film, wurde einer der angesehensten Regisseure, einer der hervorragendsten Produzenten. Wien, Berlin (er drehte dort unter anderem auch bei der Ufa), Hollywood, dann London waren die Stationen seines Lebens und Wirkens. Auf Churchills Vorschlag wurde er 1942 von König Georg VI. zum Ritter geschlagen; 1953 — die von ihm gegründete London-Film war gerade „volljährig” geworden gab er im Savoy-Theater, ihm zu Füßen der britische Adel, die Stars der Welt, die Prominenz der internationalen Filmwirtschaft, einen Rechenschaftsbericht über seine Arbeit. Minutenlang toste der Beifall um den unscheinbaren Herrn, dessen helle Augen etwas verlegen über die Brillengläser hinweg zu seinem illustren Auditorium hinabblickten. Was hat er denn schon getan? Nun: von seinem Erstling in England, dem berühmten „Heinrich VIII.” bis zu Laurence Oliviers „Richard III.”, der in seiner Produktion entstand, also von 1932 bis 1955, hat er der Welt 34 Filme gegeben, die in die Geschichte der Kinematographie eingegangen sind — er, der kleine Ungar, den man einst Sandor rief, und der am 23. Jänner 1956 in den Schlagzeilen von Kapstadt bis Moskau, von Rom bis Tokio als der große Sir Alexander Kordą erschien.

WAS WÄRE DER FILM ohne die Ungarn? Ist beispielsweise Hollywood denkbar ohne William Fox aus Tulchva, den Begründer der nach ihm benannten Firma, die fast in jeder Stadt Filialen unterhält? Ohne Adolphe Zukor aus Riese, der mit einem „Oscar” zugleich den Ehrentitel „Vater der amerikanischen Filmindustrie’ erhielt? Schon 1912 schuf dieser in Anlehnung an den französischen „Film d’Art” die Gesellschaft der „Famous Players”. Schön, er hat mit Sarah Bernhardt (in „Königin Elisabeth”) begonnen und dann Mary Pickford zum Weltstar gemacht — das Geschäft gehört bei diesem Metier zur Kunst; auch der große Sir Alexander wußte um diese, leidige Beziehung, der er freilich das Bestmögliche abzugewinnen verstand.

REGISSEURE VON RANG UND NAMEN brachte Ungarn in einer erstaunlichen Vielzahl hervor. Es sollen hier nur genannt werden: Alexanders Bruder Zoltan Kordą (der zweite Bruder Vincent wurde Filmarchitekt), Michael Curtiz (eigentlich Kertesz), Joe Pasternak, Charles Vidor, Gabriel Pascal (der durch solche Shaw-Verfilmungen wie z. B. „Cäsar und Cleopatra” bekannt geworden ist). In Deutschland tätig sind Geza von Bolvary und Josef von Baky. Geza Radvanyi - er schuf nach dem Krieg den ersten, auch im Westen gezeigten ungarischen Film „Irgendwo in Europa um das Jugendelend - arbeitet zeitweilig ebenfalls in der Bundesrepublik. Zur Elite des spanischen Films gehört der Ungar Laszlo Vajda, dessen Streifen mit dem jungen Pabūto Calvo („Marcelino”, „Pepoto”) internationale Anerkennung fanden.

Diese Künstler ungarischer Herkunft haben sich, mögen sie nun in London oder Hollywood, in Hamburg oder Madrid Filme drehen, größtenteils die liebenswerte Mentalität ihrer Heimat erhalten.

Auch Wien, das sie meist auf dem Weg zur endgültigen Stätte ihres Wirkens berührten, blieb nicht ohne Einfluß auf sie; die Kordas. Curtiz und andere begannen dort beim Filmgrafen „Sascha” Kolowrat - und dieser Name war, was Heurigenseligkeit, k. u. k. Soldatenherrlichkeit und insgesamt die „Operette auf der Leinwand” angeht, ein Begriff, der auch den ungarischen Film der zwanziger und dreißiger Jahre prägte (beispielhaft hierfür ist die „Frühjahrsparade” mit Franziska Gaal, ein Biennale- Preisträger von 1934). So verwundert es denn nicht, daß Beschwingtheit, Scharm und die Gabe der leichten Hand selbst noch das Werk eines Realisten wie Curtiz auszeichnen, der etwa bei sozialen, sozialkritischen Stoffen durch,eine mitunter bezaubernde Bildpoesie die Härte der Aussage zu mildern weiß. In Gesinnung und Formgefühl blieben sie fast alle Ungarn; hin und wieder gelang es einem von ihnen, sogar Hollywood-Filmen seine ganz persönliche Note zu geben — wie z. B. dem begabten Paul Fėjos („Einsam”, „Broadway”), der in Kalifornien so eigenwillig filmte, wie er es nur je in seiner Heimat hätte tun können.

VIELE FILMSCHAUSPIELER und -darstelle- rinnen waren und sind Ungarn — die Liste reicht von Lya de Putti, dem einstigen großen Star, bis Marika Rökk, die man jetzt wieder auf der Leinwand sieht, von Gitta Alpar bis Käthe von Nagy, dem Komiker Szöke Szakall bis zu dem Charakterdarsteller Peter Lorre. Schließlich sind die filmliterarischen Leistungen der Ungarn erheblich; zu den qualifiziertesten Autoren zählen nachgeahmten Satiren durfte da’s bedauernswerte Publikum z. B. Spekulanten und sonstige ökonomische Schädlinge „verlachen” („Das staatliche Kaufhaus”). Abgesehen von einem recht ordentlichen Film „Frühling in Budapest”, der das Schicksal einer Jüdin und eines Deserteurs in den letzten Kriegstagen behandelt, war das, was gelegentlich bei internationalen Filmfestspielen gezeigt wurde, unerheblich — so zum Beispiel Marton Keletis (des zweifachen Kossuth-Preisträgers und Verdienten Künstlers der Volksrepublik Ungarn) „Groschenmädchen”, eine läppische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund einer neu errichteten Stadt, ferner eine historische Verwechslungskomödie „Liliomfi”, wie schon gehabt, ein Komponistenporträt „Erkei”, eine Filmbiographie „Semmelweis” oder Beispiele aus der ungarischen Geschichte, wie etwa „Rakoczis Leutnant” mit stark antiösterreichischer Tendenz. „Das Meer erhebt sich” über die Freiheitsbewegung von 1848, welcher Film heute wohl nicht mehr vorgeführt wird: da kommen Ausländer, vor allem Polen, den- Aufständischen zur Hilfe .. .

ZWEI DOKUMENTARF1LMER und ein neuer Spielfilmregisseur vermochten sich in den letzten Jahren auch im Westen Geltung zu verschaffen. Es sind dies Agoston Kollanyi, dessen wunderbares „Aquarium” und ausgezeichnete Höhlenneben dem schon genannten, heute Regie führenden Laszlo Vajda auch Lajos Biro und vor allem einer der großen Filmtheoretiker, Professor Bela Baläzs („Der sichtbare Mensch”, „Der Geist des Films”, „Der Film — Werden und Wesen einer neuen Kunst”), der sich auch praktisch betätigte — so z. B. mit Leni Riefenstahl bei der Gestaltung des „Blauen Lichts”.

UND DER UNGARISCHE FILM DER GEGENWART — wie ist es um ihn bestellt? Man kennt leider wenig davon. Wie in den übrigen Volksdemokratien wurde auch hier die Kinematographie nach dem Krieg verstaatlicht, sozialisiert, „ideologisiert”. Gemäß der von den Sowjets nur zu bereitwillig übernommene Manier des „sozialistischen Realismus” reproduzierte man zunächst u. a. das „fröhliche Leben” in den — enteigneten — Handwerksbetrieben („Mit jungem Herzen”) oder die unpopulären Maßmen der landwirtschaftlichen Kollektivierung („Feuertaufe”, „Sturm”); bei den ebenfalls .erlebnis „Aggtelek” erstaunlich gute Arbeiten sind, sodann Dr, Istvan Homoki-Nagy, der mit Filmen wie „Adler — Wölfe — Abenteuer”, „Das Reich der stillen Wasser”, „Im Forst der roten Falken” u. a. teilweise auch bei uns bekannt ist, und schließlich der junge Zoltan Fabri, der den Film „Das kleine Karussell” schuf — Romeo und Julia auf dem Lande, eine schlichte Liebesgeschichte mit gutem Ausgang freilich, schier gänzlich unpolitisch, optisch keineswegs der konventionelle realistische Abklatsch, vielmehr bildhaft-poetisch, stimmungsvoll-verhalten, dann wieder, wie z. B. bei der großartigen Karussellmontage, eine an den frühen Eisenstein erinnernde, wirbelnde Bildfolge, die den Zuschauer selbst eine solche Fahrt erleben läßt. Kunst ist das zwar noch nicht in Vollendung — diese wurde und wird mitunter nur von den Ungarn in der Emigration geschaffen; aber es sind hier Ansätze des Artifiziellen bemerkbar, die — bis zu diesen Tagen — hoffen ließen, daß der Film, eigentlich eine ungarische Kunst, als solche endlich auch einmal in seiner Heimat entdeckt würde.

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