Das Ende der Kuschelpädagogik

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Die Liberalität in der Kindererziehung geht vielen allmählich zu weit. Die Sehnsucht nach mehr Strenge wächst.

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Die Liberalität in der Kindererziehung geht vielen allmählich zu weit. Die Sehnsucht nach mehr Strenge wächst.

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Auffallend ist, daß der Ruf nach den alten Tugenden nicht einmal so sehr von der älteren Generation kommt, sondern sich vermehrt die Jüngeren nach strengerer Erziehung sehnen. Aber nicht um mehr Härte mit Rohrstock und Unterdrückung geht es, zunehmend scheinen Ordnung und festgefügte Werte wieder gefragt. Dies geht aus einer Befragung des Linzer market-Instituts vom Dezember 1997 hervor (siehe Grafik). Zwei Drittel der Befragten meinen, daß Kinder heute zu freizügig erzogen werden, fast die Hälfte der jüngeren Befragten, die ihre eigene Erziehung erst kurz hinter sich haben, befürworten mehr Strenge. Nur drei Prozent glauben, daß zu streng erzogen würde.

Noch wesentlich deutlicher als hierzulande sind die Signale einer pädagogischen Trendwende bei unseren nördlichen Nachbarn. Erziehungs- und bildungspolitische Fragen haben in Deutschland, ausgelöst auch durch die jüngsten Studentenproteste Konjunktur. Präsident Herzog und sein Bildungsminister haben erst kürzlich Alarm geschlagen und mit Blick auf die Schule klare Worte gefunden: Weil es im Leben ohne Anstrengung nicht geht, brauche man nicht "Kuschelecken", aus denen die Noten verbannt werden, sondern effiziente Bildungseinrichtungen! Statt sich damit zu beschäftigen, ob man Schiffahrt künftig mit drei f schreibt, müsse es in der Schule wieder mehr um Leistung und Wettbewerb, und - man höre - um Elitebildung gehen!

Ein deutlicher Appell des deutschen Präsidenten ist an die Adresse der Eltern gerichtet: Die Schule darf nicht zum Reparaturbetrieb für alle Defizite der Gesellschaft werden. Sie kann Eltern bei der Erziehung unterstützen, nicht aber ersetzen. Statt gewährenlassendem Laissez-faire im Umgang mit Kindern plädiert Herzog für die Vermittlung von Tugenden wie Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin, vor allem aber Respekt vor dem Nächsten und die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung.

Bissige Aussagen Kräftig angeheizt wird die Debatte auch durch bissige Aussagen des Arbeitgeberpräsidenten Dieter Hundt. Er wertet die Pädagogik der siebziger und achtziger Jahre als "Schmusepädagogik" ab; in ihrer Leistungsfeindlichkeit habe sie "Leistung" zu einem verpönten Wort gemacht. Das Programm einer notenfreien Grundschule sieht Hundt als reine "Augenauswischerei", Kinder könnten mit Noten mehr anfangen als mit ausgefeilten psychologischen Gutachten, die mit vielen Wörtern das Wesentliche verschleiern. Unter kindgerecht-sanfter Pädagogik verstecke sich letztlich doch nur die altbekannte Gleichheitsideologie.

Fernab politischer Brandreden signalisieren indessen die neusten Umfragen des "Spiegel", daß die Trendwende im pädagogischen Alltag bereits tatsächlich voll eingesetzt hat. In der BRD bahnt sich - noch weitaus drastischer als bei uns - ein Wandel im elterlichen Erziehungsverhalten an. Der alltäglich-praktische Umgang mit Kindern wird härter. Der pädagogische Dauerritt auf der weichen Welle, das ewige Herumverhandeln mit dem Nachwuchs scheint zu Ende: Vier von fünf Befragten glauben, daß Kinder in den letzten zehn Jahren zu liberal erzogen worden sind. Aber nicht nur die 68er Generation ist dabei, sich resigniert von ihrer ideologisch geprägten antiautoritären Pädagogik zu verabschieden. Erstaunlich ist, daß - gleichauf mit den Rentnerjahrgängen - die heute 18- bis 24jährigen mit 80 Prozent die höchste Ablehnungsrate gegenüber einer allzu laschen Kinderstube aufweisen. Ausgerechnet die vermeintlichen Nutznießer der nun beklagten Liberalität fühlen sich offenbar als deren Opfer!

Auch in der Frage körperlicher Gewalt gegenüber Kindern dreht sich der pädagogische Wind. Es ist wohl eines der alarmierendsten Ergebnisse der Befragung, daß 81 Prozent der Bevölkerung - wieder - der alten Volksweisheit anhängen, ein Klaps könne nicht schaden. Dazu paßt, daß sich ein Viertel für die Wiedereinführung geschlossener Anstalten, sogenannte Erziehungsheime für verwahrloste und schwer verhaltensgestörte Kinder ausspricht. Ambulante Betreuung dieser Kinder in Beratungsstellen wird in der Bevölkerung zunehmend als ineffizient gesehen.

Ohne Zweifel, die Erziehungs- und Bildungsdogmen der siebziger Jahre fallen reihenweise. Eine Generation steht resigniert vor den Bruchstücken ihrer Erziehungsideale und ist gerade gründlich dabei, sich von der Doktrin der grenzenlos offenen Güte und Kindorientierung zu verabschieden.

Höchste Zeit also für eine Gegenbewegung, die mit den leistungsfeindlichen und gleichmacherischen Ideologien der siebziger Jahre aufräumt?

Schulen degenerieren Viele geben Kritikern, wie etwa dem Amerikaner Paul Goodman recht, wenn er davon spricht, daß die Schule längst zum "great babysitting" degeneriert (wird). Zunehmend setzt sich unter Experten die Meinung durch, daß es höchste Zeit ist, sich von einigen Auswüchsen in Erziehung und Schule zu verabschieden: n Etwa von jener übertrieben warmherzig-übermutterten Sorgehaltung, die dem Kind aus Angst vor Schwarzer Pädagogik kaum jemals eine Chance zum Opponieren läßt - es sei denn durch die Entwicklung von Neurosen; n oder von jener Erziehungshaltung, die dem Kind die positive Erfahrung von Grenzen verwehrt, indem sie erst gar keine aufstellt n und sicher auch von jener übertrieben kindgerecht-sanften Pädagogik, die das Kind psychologisierend anleitet, sich permanent vor dem Feindbild einer fordernd harten Leistungsgesellschaft zu verstecken.

Der Schule würde eine Trendumkehr in manchen Bereichen sicher nicht schaden. Mit Sicherheit ist es beispielsweise an der Zeit, mit den Auswüchsen einer verordneten Spiel- und Spaßschule abzurechnen, die den Lehrer unter Mißachtung der Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit zum zweitklassigen Fernsehmoderator, Spektakel-Referenten, Eltern-Ersatz oder Therapeuten verpflichtet. Entbehrlich wären zweifellos auch zum Dogma erhobene Pädagogik-Moden wie schulische Sitzordnungen mit Gruppentisch und halswirbelverrenkten Kindern auf politisch-modisch gewordenen Sitzbällen, ohne Sicht auf die Tafel. - Ein Aus auch dem permanenten Wohlfühl-Zwang, der Schule mit Selbsterfahrungsgruppe verwechselt. Und höchste Zeit auch, wenn sich künftig die permanente psychologisch-therapeutische Schwere von den Kindern löst und sich die zeitgeistigen esoterischen Nebel über ihren Problemen wieder etwas lichten würden.

Kurskorrektur Bei aller Befürwortung einer Trendwende besteht zweifellos die Gefahr, daß das Pendel zu sehr in die Gegenrichtung ausschlägt. Aber es geht um berechtigte Kurskorrekturen in vielen Einzelbereichen, nicht darum, mit pauschalierenden Politikerworten alle pädagogischen und lernpsychologischen Erkenntnisse und Bemühungen der letzten Zeit herunterzumachen! Erziehung und Schule können sich nicht allein an Effizienz, Leistung oder Arbeitsmarkt orientieren. Wir brauchen pädagogische Schonräume, Leistung allein kann nicht der Weisheit letzter Schluß sein.

Pädagogische Trendwende also ja, wenn sie den längst fälligen Abschied von der schönen Vision einer völlig repressionsfreien Erziehung bringt, die ohnedies meist im erzieherischen Vakuum endet. Pädagogische Trendwende aber nein, wenn sie ein bloßes Zurück zu autoritär-fremdbestimmer Härte meint und Autorität mit Zwang und Unterdrückung anstelle von Erfahrung, Wissen, Vertrauen, Menschlichkeit gleichsetzt.

Der Autor ist Kinderpsychologe und Psychotherapeut sowie Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Akademie in Innsbruck.

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