Wir Opfer und Täter

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Statt mit Debatten über das Jahr 1938 um politisches Kleingeld zu feilschen, sollten wir angesichts heutiger Entwicklungen viel wachsamer sein.

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Statt mit Debatten über das Jahr 1938 um politisches Kleingeld zu feilschen, sollten wir angesichts heutiger Entwicklungen viel wachsamer sein.

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Es geschah am hellen Tag, am 13. Juni 1997, in der sächsischen Kleinstadt Sebnitz: Im Becken des öffentlichen Schwimmbades stirbt der sechsjährige Joseph, Sohn eines Irakers und einer Deutschen. Ein "Badeunfall", heißt es. Von 300 Badegästen will keiner Genaueres gesehen haben, die Behörden stellen bald die Ermittlungen ein.

Nur Josephs Eltern geben nicht auf und zahlen aus eigener Tasche umgerechnet 70.000 Schilling für eine zweite Obduktion. In der Leiche des Buben werden Spuren des Nervenmittels Ritalin nachgewiesen. Die Mutter geht in dem Städtchen von Haus zu Haus, langsam bröckelt die Mauer des Schweigens, und schließlich bestätigen Zeugen: Joseph wurde qualvoll getötet. Einige Rechtsradikale zerrten ihn von seinem Handtuch, beschimpften ihn als "Scheißausländer" und misshandelten ihn, und das sogar mit einem Elektroschocker. Sie flößten ihm das Ritalin - ein gängiger Ersatz für die Partydroge Ecstasy - ein und warfen den benommenen Buben ins Wasser, wo er hilflos ertrank.

Noch ist diese zweite Version des Herganges nicht bewiesen. Vielleicht war doch alles ganz anders. Aber niemand behauptet, er halte diese todtraurige, erschütternde Geschichte für völlig unmöglich. Sie könnte passiert sein oder noch passieren - und keineswegs nur in Sachsen.

Für Fälle solcher Art sind stets die gleichen Fragen zu stellen: Was geht in Menschen vor, die in ihrem ideologischen Wahn nichts dabei finden, ein Kind grausam umzubringen? Warum haben alle weggeschaut, warum hat keiner eingegriffen? Warum bedurfte es erst außerordentlichen Einsatzes, um einige Zeugen zumindest nachträglich zum Reden zu bringen? Fühlten sie sich mitschuldig? Fürchteten sie, für ihr passives Verhalten bestraft zu werden?

Opfer Österreich Nichts zeigt anschaulicher als ein solcher Fall, dass Verbrechen, und das gilt bis hin zum Weltkrieg und Völkermord, selten ausschließlich eine Angelegenheit von eindeutig bestimmbaren Tätern und Opfern sind. Gerade wird wieder, ausgehend von einem Interview des Bundeskanzlers, heftig darüber debattiert, ob Österreich ein Opfer oder Mittäter des NS-Regimes war. Der Konflikt beweist zunächst, dass es entweder auch mit einem Abstand von Jahrzehnten keine einheitliche Bewertung von historischen Ereignissen gibt oder dass man diese einheitliche Bewertung schnell unter den Tisch kehrt, wenn man auf politisches Kleingeld hofft.

Selbstverständlich war Österreich als Staat das erste Opfer Hitler-Deutschlands, und ebenso selbstverständlich trugen viele Österreicher für die Verbrechen des NS-Staates Mitverantwortung. Wer nur das eine gelten lässt und das andere total leugnet, fälscht die Geschichte. Doch Wolfgang Schüssel hat in dem Interview beides angesprochen.

Und Tatsache ist: Erst dieses heutige Kabinett Schüssel hat die Verantwortung Österreichs nicht nur verbal, sondern auch de facto wahrgenommen, indem sie punkto Entschädigungen für NS-Opfer Dinge geleis-tet hat, die jahrzehntelang hinausgeschoben wurden. Über die jüngste Aussage von Alfred Gusenbauer, diese Regierung sei "nicht vom Volk gewählt", sondern habe "sich selbst installiert", kann man übrigens nur den Kopf schütteln: Dass das Volk die Abgeordneten für den Nationalrat und nicht die Regierung wählt, sollte der SPÖ-Chef wissen.

Dass sich 1938 viele Österreicher nicht als Opfer fühlten, ist unbestritten, dass viele sich während der NS-Zeit bereicherten oder sogar Blutschuld auf sich luden, ist bekannt. Doch jeder weiß, wie sehr der damalige Kanzler Kurt Schuschnigg betonte, dass "wir der Gewalt weichen", dass gleich im März 1938 viele Patrioten inhaftiert wurden. Fest steht auch, dass viele Befürworter des Anschlusses - da-runter führende Sozialdemokraten wie Otto Bauer und Karl Renner - auf ihre Art auch Opfer waren, nämlich einer verführerischen Großdeutschland-Idee, aber sicher nicht dem Hitler-Regime zuneigten.

Menetekel Dass Österreich später die Opferrolle zeitweise über Gebühr bis hin zur Lebenslüge strapaziert hat, die Mittäterrolle unter den Tisch gekehrt und sich speziell um die Rückstellung von jüdischem Eigentum oft meisterhaft gedrückt hat, muss ohne Umschweife einbekannt werden. Dass auf der anderen Seite das Ausland die Opferrolle Österreichs gerne ganz he-runterspielte, sollte auch ein eigenes Versäumnis kaschieren: Wer hatte denn, mit Ausnahme von Staaten wie Mexiko, 1938 für die Unabhängigkeit Österreichs Partei ergriffen?

Täter und Opfer, Mittäter, Mitwisser und Wegschauer, Schuldige und Schuldlose - die Frage nach Gerechtigkeit, danach, wer wo und wann was zu verantworten hatte, ist wichtig. Sie ist bei jeder von Menschen verursachten Katastrophe, auch bei nur fahrlässig herbeigeführten wie jenen im Stollen von Lassing oder im Tunnel von Kaprun, zu stellen. Vergeltung und Sühne spielen dabei nicht die Hauptrolle. Und "Wiedergutmachung" ist ein Schlagwort, das nie verwirklicht werden kann, mögen auch noch so clevere, auf ihr Image bedachte Anwälte mit Sammelklagen das Maximum an Geld für ihre Klienten - und für sich selbst - herausholen. Man mag den Hinterbliebenen jegliche finanzielle und psychische Erleichterung ihres Schicksals gönnen - doch wer macht die Holocaust- und Weltkriegsopfer, den kleinen Joseph oder die Toten von Lassing und Kaprun wieder lebendig?

Im Grunde geht es in allen diesen Fällen, so verschieden sie in ihren Dimensionen und in ihrem Charakter auch sein mögen, um die Lehren für die Zukunft: Wie hellhörig muss ich als Verantwortlicher eines Betriebes wie Lassing oder Kaprun gegenüber geringsten Anzeichen von auftretenden Gefahren sein? Wie verhalte ich mich angesichts von Gewalt gegen Menschen, insbesondere solchen, die sich nicht wehren können? Schaue ich weg, wenn ich erkenne, dass Menschen zu Opfern einer Ideologie, von sozialer Ungerechtigkeit oder wirtschaftlicher Ausbeutung werden?

Die Vergangenheit wird am besten bewältigt, indem man ihre Fehler nicht wiederholt, sondern verantwortungsvoll die Gegenwart meistert. Der Eifer, mit dem über historische Ereignisse disputiert wird, darf nicht dazu führen, dass man die Menetekel im Alltag von heute übersieht.

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