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„Reformatio“

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Mit Jänner 1952 erscheint in der Schweiz (Schaffhausen) eine neue Zeitschrift für evangelische Kultur und Politik: „Reformatio". Als Herausgeber zeichnet „der schweizerische evangelische Kirchenverein", für die Schriftleitung Prof. Dr. Hans Dürr, Bern, und Prof. Dr. Werner K a e g i, Basel. Die Aufgabe, die sie sich stellt, ist weit über die Kreise, an die sie sich wendet, von Interesse und Geltung.

Den Programmartikel schreibt Peter Vogelsanger. Der ist von einer befreienden Offenheit. Reformation ist ihm „das Ringen um die Gestaltung der Welt aus der Kraft und Glut des Glaubens". Im Sinne des geschichtlichen Ausgangs ist ihm Reformation die „Wiederherstellung der gereinigten Form menschlichen Lebens und menschlicher Gemeinschaft nach der in Christus geoffenbarten Urform". Die Urposition der Reformatoren, die seither bis zur Preisgabe der „Welt“ und zur Verneinung der Frage, ob sich auf' ihrem Grund überhaupt eine Ethik aufbauen läßt, vorgetrieben wurde, wird aufgenommen, die genannten Folgerungen stillschweigend verneint. Mehr noch: die kulturelle Leistung des Protestantismus und die Reformation selbst als die schöpferische Anregerin der Kultur, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft der Neuzeit vorgestellt.

Ist nun der gegenwärtige Protestantismus dieser Verpflichtung und Aufgabe gewachsen? Das Nein auf diese Frage begründet Vogelsanger durch ein schonungsloses Bild, das selbst dem Außenstehenden zu düster erscheint: „Der frische Quell (der Reformation) ist ein gelber, schmutziger Strom geworden. Auf weite Strecken ist das ursprüngliche Leben versickert und versandet. Wenn wir die geistige Situation des Gebildes .Protestantismus’ überschauen, das sich als Träger des reformatorischen Erbes ansprechen läßt, so können wir das Seufzen der Enttäuschung nicht Unterdrücken. Die Reformation ist der Stagnation gewichen. Die Reformation ist auf weite Strecken eine unerfüllte Verheißung geblieben." Gemessen an dem Willen dieser Zeitschrift ist „die Geschichte des Protestantismus in den letzten zwei Jahrhunderten in die bemühende Geschichte eines fortgesetzten Rückzuges aus dem Raum der modernen Kultur in den Raum der Innerlichkeit und der Enge geworden.

Dadurch ist die Kultur zu einer „rein säkularistischen Größe geworden; und hat die Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft, der Gesellschaft und Politik erklärt, die ehedem durch die Bindung alles Ge- schöpflichen an seinen Schöpfer bestimmt waren. Konfessionalismus, kirchliche In-zücht und individualistische Frömmigkeit sahen tatenlos zu und verloren schließlich den Glauben an sich selbst und seine Mission. Aber die Aufgabe des Glaubens bleibt. Hier will die „Reformatio“ einsetzen: „Die Kluft zwischen evangelischem Glauben und moderner Kultur muß sich wieder schließen, sonst leiden beide tödlichen Schaden.“ Inzwischen schauen, sagt der Verfasser, die führenden Köpfe der modernen Kultur, ratlos vor ihrem Ergebnis, zu ihrem Ursprung zurück. Jener falsche Glaube ist zuschanden geworden, daß durch Kultur, Zivilisation, Humanismus und Wissenschaft allein die Menschheit sich aus eigener Anstrengung auf die Gipfelhöhe eines' veräußerlichten Gottesreiches emporarbeiten könne. Andererseits: Der Nihilismus rüttelt von allen Seiten an den geistigen und ethischen Pfeilern des Abendlandes … Das kommende Zeitalter wird entweder ein christliches oder ein nihilistisches sein. Das nihilistische aber hätte für uns seinen Lebenswert verloren. Diese Entscheidung stellt uns aber nicht nur vor eine Erkenntnisfrage: Finden wir den Weg zu einer Erneuerung des abendländischen Lebens in Kultur, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Lebensgestaltung?

Vogelsanger ist .sich dabei der Bedeutung theologischer Grundlegung bewußt. „Eine theologische Erneuerung von säkularem Ausmaß“ ist nötig, aber die gestellte Aufgabe kann nur aus der Glut des Glaubens bewältigt werden.

Dafür ruft die Zeitschrift zur Mitarbeit auf. Auch über die Zäune hinweg. „Wir haben“, gesteht sie, „kein Programm und keine fertigen Rezepte in der Redaktionsmappe.“ Die Herausgeber wollen ein Erwachen des Protestantismus aus politischer Gleichgültigkeit und Ohnmacht. Sie wollen ein „offenes Gespräch nach allen Seiten", ohne Grenzverwischung und ohne Relativismus. Sie wissen sich verbunden einem Liberalismus und Humanismus, dessen Anliegen Menschenwürde und Freiheit sind, sie lehnen aber den atheistischen Liberalismus der Autonomie ab, der alles Absolute relativiert. Sie wollen Mitarbeit von Sozialisten, die den Schutzlosen ihr Recht erkämpfen, sie lehnen aber einen Sozialismus ab, der nur den materiellen Fortschritt kennt.

Wie stellt sich die neue Zeitschrift zu einer Mitarbeit von Katholiken? „Wir wissen uns endlich verbunden mit den christusgläubigen Katholiken in der gemeinsamen Verteidigung der höchsten Werte christlicher Ethik und christlicher Kultur, ja wir glauben an eine lebendige Bruderschaft und Christusgemeinschaft zwischen Evangelischen und Katholiken und sind allem protestantischen Protzenturn abhold; wir wissen uns getrennt von einem Katholizismus der diskussionslosen Ausschließlichkeit und römischen Anmaßung."

Das ist das Programm der „Reformatio". Wir haben versucht, einen objektiven Bericht über ein evangelisches Unternehmen zu geben. Seine Sicht der Gegenwart deckt sich weithin mit unserer katholischen. Ebenso die Aufgabe. Der konfessionalistische Standort ist mit den Trägern und mit den Kreisen, an die sie sich wenden, vorgegeben.

Als Katholiken bedauern wir den letzten Ausdruck des letzten Zitats. Die Terminologie auch eines verdünnten Grobianismus sollte endgültig vorbei sein. Was heißt übrigens „Anmaßung“? Zwei unterschiedliche Urteile über denselben Sachverhalt sind entweder beide falsch oder eines ist falsch und eines ist richtig. Aber keines ist anmaßend. Schlimm für die Wahrheit, wenn sie mit Anmaßung vertreten wird, blamabel, wenn ein falscher Standort mit Anmaßung vertreten wird. Aber das sagt sachlich nichts über Wahrheit und Irrtum der Urteile.

Was uns untereinander fehlt, bis heute fehlt, weil es mit der Geburtsstunde der Zerreißung der einen Kirche — Christus hat nur eine gegründet — mitgegeben war, ist eine ehrliche Kenntnis vom Standort des andern, die über unsachliches Protzentum und unsachliche Anmaßung hinwegzusehen vermag. Sie allein ermöglicht eine Zusammenarbeit. Alle Gereiztheit verwirrt die notwendige Gewissenserforschung.

Auch der gediegene und klare Artikel Emil Brunners „Die Alternative zum Nihilismus" ist nicht frei davon. Der Protest gegen die Sünden und Inkonsequenzen kirchlicher Stellen im 16. Jahrhundert ist von katholischen Historikern ebenso als zurecht bestehend gesehen worden wie von protestantischen. Eine Zeitschrift, die mit einer so ehrlichen Gewissenserforschung beginnt und am Protestantismus der Geschichte und der Gegenwart mehr aussetzt, als Katholiken je eingefallen wäre auszusetzen, kann nicht einfach in den Ereignissen nach dem Wormser Reichstag nur einen „Protest gegen einen totalitär entarteten .Glauben und gegen eine Kirchlichkeit, die sich mit Gott verwechselt" (13), sehen, auch wenn sie zugäbe, daß dieser Protest im Handumdrehen auch auf die eigenen Bekenner und ihre Menschlichkeit angewendet werden 1. önnte und auch von Protestanten angewendet wird.

Nein, nicht der Glaube war totalitär entartet, wohl aber seine Bekenner im

Widerspruch mit ihrem Glauben. Und Voltaires „Ecrasez l'infame!“ hat, glauben wir ehrlich, andere Wurzeln als den religiösen Zorn des jungen Luther. Genau so wie Lessings Kampf gegen die „tote Orthodoxie" (des Protestantismus) sicher nicht aus dem Glauben allein kam.

Es wäre sogar für die „Reformatio" mit ihrem missionarischen Elan einer Gewissenserforschung wert, ob das in fast allen Abhandlungen beklagte Versagen des Protestantismus im öffentlichen Leben, nicht mit Mißverständnissen über die Kirche und ihre Existenz in dieser Welt vorgegeben ist. Die Zeichnung Eberhard Stammlers zur „Aktuellen Situation des deutschen Protestantismus" erschüttert durch ihre Illusionslosigkeit — und enttäuscht durch einen konfessionellen Neid, der den alleinigen Blick auf die Symptome von ihren letzten Ursachen abblendet.

Die zu erkennen, darauf käme es an. Und nur von daher ist eine Zusammenarbeit über den Zaun möglich und fruchtbar.

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