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Bubenfrüliling

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Noch immer spüre ich die heimliche Erregung aus meiner Kindheit: Wenn sich Himmel und Erde ins Übermaß ihrer wachsenden Kraft drängten, da erlebte ich die Tage in seliger Gehobenheit, und unter Ausnützung aller Freiheiten, die des öfteren mit den elterlichen Geboten in Gegensatz gerieten und so manche Zwischenfälle her-aufbeschwörten, erfuhr ich den schicksalhaften Ablauf zwischen Schuld und Sühne an jenen Tagen, da es — eine Folge der elterlichen Bestrafung — einem verwehrt war, an den Spielen der Nachbarkinder teilzunehmen.

Was waren das für Spiele! Spiele mit Kreiseln und Stäben, mit Kugeln und Wurfhölzern, oder die wilderen mit Verstecken und Jagen, und was weiß ich noch alles, unerschöpfliche Erzeugnisse einer Phantasie, die, im Vereine aufgezogen, Dinge geschehen ließ wider die selbst elterliche Herrschaft nur schwer aufkam. Nicht allein, daß wir diese Spiele spielten, machte uns glücklich — das war um ein Kleines, um einen Monat, dann war der Reiz des Neuen um und mancher Pläne waren wir schon überdrüssig —, sondern die wirkende Kraft der Natur verleitete uns zu unerklärlichen Übersteigerungen. Das Wachstum aus den Händen Gottes, der Welt auf mannigfache Weise geschenkt, verband sich in geheimnishafter Beziehung mit dem Wachsenden in uns, und erst viele, viele Jahre später ist mir das ahnungsreiche Gefühl dafür aufgegangen, daß alles Wachsende sich erfüllt in einem unermeßlichen Gesetz aus Drang und Zögerung, aus Verschwendung und Behütung: ein trefflicher Beweis für das Recht jung sein zur dürfen.

Wie lebten wir sicher in unserm glanzreichen Bubenfrühling, in den großen Gleichnissen der Natur, da der Wind mild über die Berge hertrieb, der Himmel, blau wie Pflaumenhaut, von rosa Schäfchen Wölkchen befahren, sich im Dorfbach leise abgetönt widerspiegelte und alles ineinander-band: die bräunlichgrauen Äcker an den föhntrockenen Straßen, die gelbgrünen Wiesen, die Auen mit dem weinroten Schimmer über den noch kahlen Weidenstauden und mit dem silbergrauen Schein über den Erlen, versteckte Tümpel mit ihrer unerläßlichen Ruhe, nötig für laichende Frösche, Frösche mir hellgrünen Rücken, dunkelgef'eckt, und einem hellen

Streifen längshin — mit leuchtenderschrockenen Augen, da wir ins träge Wasser langten, den schlickigen Laich zu heben, ein Wundergeflecht gleichsam aus tausend geschlossenen Augen, die nach dem Lichte lechzten.

Alles lebte in unheurer Übersteigerung, einer Ubersteigerung aus Gelassenheit, nicht aus Schwäche — und somit in einem dauernd unbegreiflichen Anhalten. Selbst die täglich wiederholten Bilder gewannen ihre tiefere Kraft, so etwa, wie das Vieh behaglich zur Tränke tappte und mit leermalmenden Mäulern an den Trögen verweilte, bis ein Hund herbellte. Oder die bunt über die Äcker wedelnden Hühner, überstrahlt von der herrscherlichen Schönheit ihres Hahns, der, seiner Würden sicher, niemanden in seiner Nähe duldete Oder die streichenden Katzen auf der Lauer, gierig zum Sprunge gespannt und doch starr an ein Erdhügelchen gebannt, daß sie selbst ihre Verfolger, uns Buben, vergaßen.

Bild und Geschöpf gewährten sich Einblick in die geheimsten Regungen, die wir insoferne ahnten, als wir unsere unverbrauchten Bubenherzen täglich ohne zu prahlen, verschwendeten und sie des Abends beim Einschlafen doch wieder zurückerhielten, Traum und Täuschung wunderlich gemischt und dadurch zu einer Wirklichkeit erhoben, die alle Ereignisse des Tages mit jenem Glanz umgab, der neue Kraft für den nächsten Tag austeilte. Und es mochte geschehen, daß einer, da er fröstelnd im Hemde erwachte, vor dem Fenster stand und mit ängstlichen Gebärden nach seinem Schatten langte, den der magische Schein des Mondes zum ergötzlichen Spiele für sich befohlen hatte. Wie war so eine Mitternachtsstunde von Geistern und Schelmen bewohnt!

Da wir uns wieder ins Bett verkrochen, erholten wir uns und lächelten der angefallenen Schwäche: Morgen war ein neuer Tag mit Hoffnungen und Erfüllungen, mit Plänen und Taten und mit etwas Besonderem: der Vater baute eine Starenhütte. Er lud uns zu tätiger Hilfe ein, Bretter wurden geschnitten, ein Steiglein gerichtet, das Schlupfloch gebohrt und im Nu war das Haus fertig. Wie war es schön! Doch hättens wir noch schöner zu schaffen verstanden — wie andere, die Türme und Bal-kone, grüne Läden und „richtige“ Scheiben

an- und eingesetzt und mit verschiedenen Farben nachgeholfen hatten.

Der Vater lehnte unsere Wünsche unwirsch ab: „Es gibt nichts Schöneres!“ Dabei verwies er auf die seltsam geführte Zeichnung des Holzes. „Die sind gewachsen!“ fuhr er zärtlich mit der Hand über die Maserung, während wir den Farbtopf unzufrieden in den Winkel stellten. Er beachtete unsere Unzufriedenheit und holte die Kappe eines abgesägten Fichtenbloches, die er uns durch ein Vergrößerungsglas betrachten ließ. Wie waren wir erstaunt ob der in aller scheinbaren Verwirrung wundersam geregelten Anordnung der Zellen und Fasern, Ausstrahlungen und Netze, Kreise und Waben, Dinge, aus denen die Jahresringe erwachsen waren. „So lebt das Holz! Es atmet!“ sagte der Vater.

Also begriffen wir das, was der Vater sagen wollte oder wir begriffen es nicht, jedenfalls freuten wir uns, da die Hütte in der Krone des Birnbaumes aufgerichtet wurde. Und siehe, eines Morgens sang ein Star in unserer Nähe, sang unaufhörlich und berückend von seinem jungen Liebesglück, flog ab und zu, eifrig seinem Dienste ergeben. Unsere Herzen schlugen höher vor Seligkeit, wir vermeinten ein Gutes beizu-

tragen, da wir im Garten nach Würmern suchten und, froh der reichen Beute, mit Pfeifen und Rufen das Männlein zu locken versuchten.

Uber Nacht schien das Unveränderliche der Natur bedroht. Die Wghinwährenden Tage des heiteren Himmels waren vorbei. Es regnete. Eine seltsame Unruhe bemächtigte sich unser, als hätten wir Sorge ums Geschick des Frühlings. Doch als sich nach einer Woche ein blanker Morgen entfaltete, waren wir bestürzt vor soviel wogender Herrlichkeit, die Strom an Strom über die ausgebreitete Weh* flutete, unendlich ausgeworfene Äcker und Wiesen, Wälder, Hügel und Berge. Das Räumliche einer von Bergen bestimmten Landschaft war vollends aufgehoben, alles stieß ins Weite, Unbegrenzte, und die Sonne warf durch den Filter des blauen Himmels fortzu Licht und Lichter herab — auf das unversehens aufgeschossene Gras und die goldgrünen Blattkrönlein an den Bäumen und Sträuchern, beglänzte den Gesang der Vögel und mich, der zum erstenmal durchs taunasse, zärtliche Gras lief und auf seiner Weidenpfeife blies, die wir uns im nahen Wäldchen geschnitten hatten.

Wie ist das lange her! Die Erfahrungen der Jahre haben manches zu berichtigen aufgetragen: die Erfordernisse des Lebens erziehen zu harter Betrachtung, aber auch zu jener köstlichen Erahnung der Geheimnisse, die dauern.

Und gerade darum liebe ich diese Tage der Wandlung und bin noch immer von der heimlichen Erregung meiner Kindheit betroffen, da sich Himmel und Erde verschwendeten und im Übermaß ihrer währenden Kräfte entfalteten, darin ihren Reichtum lobend bewährten und in diesem Lobe die ewige Herrlicheit alles Wachsenden und damit Gottes erkannten.

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