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Das Tor nach Indien in Gefahr

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Am 14. Dezember 1955 sind Ministerpräsident Bulganin und Nikita Chruschtschow zu einem Staatsbesuch in der afghanischen Hauptstadt Kabul eingetroffen.

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Am 14. Dezember 1955 sind Ministerpräsident Bulganin und Nikita Chruschtschow zu einem Staatsbesuch in der afghanischen Hauptstadt Kabul eingetroffen.

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„Jeder, der jemals jemand war, ist hier vorbeigekommen“, sagt man in Afghanistan vom Khaiberpaß, über den die Straße von Kabul nach Peschawar führt. Denn dieser Khaiberpaß ist das, alte, historische Einfallstor nach Indien, durch das schon Alexander der Große, Dschingis-Khan und Timur-Leng zogen, und obwohl er heute eigentlich <in Pakistan liegt, ist seine Geschichte doch zugleich die Geschichte Afghanistans.

Afghanistan liegt, abgeschnitten vom Meer, zwischen Rußland, Persien und Pakistan, mit einem kleinen, schmalen Ausläufer, der bis an die Grenzen von China heranreicht. Klein im Verhältnis zu seinen Nachbarstaaten ist Afghanistan doch immerhin mehr als achtmal so groß als Oesterreich; allerdings kann nicht einmal ein Zehntel dieser großen Fläche kultiviert werden, denn in weiten Teilen des Landes regnet es fast nie. Nur die Ströme und Bäche, die von den vier- und fünftausend Meter hohen Gebirgszügen des Hindukusch herabkommen, machen das Leben in den Tälern möglich: man zapft sie an und leitet sie schon seit Jahrtausenden durch komplizierte, verzweigte Bewässerungskanäle, von denen manche kilometerweit unterirdisch in den Felsen gehauen sind. So gewinnt man selbst im Süden noch, am Rande der Dascht-i-Margo, der Wüste des Todes, grüne Gartenparadiese, in denen zwischen Zedern und Zypressen Reis, Baumwolle, Weizen und die berühmten Melonen wachsen.

Wenn man bei Torkham die schwere Eisenkette passiert hat, die die Khaiberpaßstraße sperrt, dann ist es, als hätte man einen Riesenschritt zurück ins Mittelalter getan. In Afghanistan schreibt man das Jahr 1333, weil seine Bewohner ihre Zeitrechnung als gläubige Mohammedaner mit der Flucht Mohammeds aus Mekka beginnen; aber vieles in ihrem Land wirkt so altertümlich, als wenn man dort auch nach unserer Zeitrechnung noch im 14. Jahrhundert lebte. Afghanistan ist neben Tibet das einzige größere. Land der Welt, in dem es keine E i se nb ahn e n gibt“. Es gibt wohl Autos, aber die Straßen sind so schlecht, daß man auf manchen Strecken mehr defekte Wagen findet als man in Bewegung sieht.. Wenn man jedoch mit dem Auto im Schrittempo durch die Kurven und Schlaglöcher der Khaiberpaßstraße hinunterfährt, dann begegnet man den wahren Herren des Landes: den Nomaden. Hohe, schwankende Kamele und hunderte Eselchen, mit riesigen Bündeln von Zelten und Decken, Töpfen und Fellen beladen, Hunde und Karakulschafe, deren kostbare Felle die wichtigste Ausfuhrware des Landes sind, drängen die Lastwagen der fluchenden Fahrer an den. Abgrund. Angetrieben von großen bärtigen Männern, die niemals auch nur einen Augenblick ohne Gewehr sind, und von ihren Frauen und Kindern ziehen diese Karawanen zu Beginn des Winters, der Nordafghanistan viel Schnee und Kälte bringt, nach Süden, und kehren im Frühling wieder zurück, ohne sich um Behörden und Grenzen, um Steuern oder Polizei zu kümmern.

Afghanistan hat rund zwölf Millionen Einwohner und ist — wenigstens auf dem Papier — eine konstitutionelle Monarchie mit einem Zweikammerparlament. Tatsächlich aber herrschen die Verwandten des: Königs Mohammed Zahir Schah unter der Leitung seines Onkels, des Premierministers Sardar Schah Mahmud Daud. Das berührt die Afghanen jedoch nicht sehr, denn so wie seit Jahrtausenden suchen sie ihr Recht selbst, verteidigen ihre Felder und Pferde gegen Räuber und üben nach dem Gebot der Sippe Blutrache.

Einer der Gründe für diese Zustände ist der, daß das Land,, das in seiner heutigen Gestalt erst 1747 aus Teilen Persiens und Indiens gebildet wurde, bis heute kein einheitlicher Staat geworden ist. Der Name „Afghanen“ bezieht sich eigentlich nur auf ein Drittel der Bevölkerung, auf die Puschtu sprechenden Pathanen, die über die anderen Stämme ziemlich unbeschränkt herrschen. Entsprechend der Lage Afghanistans am Kreuzungspunkt großer Völkerstraßen gehören seine Bewohner den verschiedensten Rassen- und Sprachgruppen an und sprechen neben Puschtu noch Persisch und ein gutes Dutzend anderer Sprachen und Dialekte.

Afghanistan ist Mitglied der Vereinten Nationen und wird von ihren Hilfsorganisationen bei der Erschließung seiner Reserven sehr unterstützt. Das Land ist nämlich reich an Boden-

schätzen wie Eisen, Gold und Kupfer. Neben der WHO, der FAO und der UNESCO unterstützen auch die Vereinigten Staaten Afghanistan. Sie haben dem Land im Rahmen des technischen Hilfsprogramms gegen 6 Millionen Dollar zugewendet und ihm eine Anleihe von 40 Millionen Dollar gewährt. Amerikanische Landwirtschaftsexperten haben neue Getreide-und Obstsorten ins Land gebracht und amerikanische Ingenieure und Firmen arbeiten im Tal des Hilmendflusses, der, obwohl er so breit ist wie die Donau, am Ende seines Laufes buchstäblich in Salzseen und Wüstensand versickert, an ausgedehnten Damm- und Bewässerungsbauten. Die Amerikaner sind nicht zufällig ins Land gekommen, sondern haben vielmehr im Lauf der letzten Jahrzehnte die zivilisatorische Rolle übernommen, die einst die Engländer gehabt hatten. Trotz dieser Situation und trotz aller Abneigung der Afghanen ist es nun der Einfluß der Russen, der allmählich immer größer wird — kein Wunder, da Afghanistan mit der Sowjetunion eine mehr als 1500 Kilometer lange Grenze gemeinsam hat.

Die herrschende Schicht Afghanistans gehört d,er Sprachgruppe der Pathanen (oder Paschtunen) an. Rund acht Millionen der Pathanen leben nun auch jenseits des Khaiberpasses in der Nordwestprovinz des heutigen Staates Pakistan, von wo ein Teil von ihnen häufig nach Afghanistan herüberkommt. Während Pakistan, für das der Khaiberpaß natürlich ungeheure strategische Bedeutung hat, diese ganzen Stammesgebiete im Nordwesten zu einer neuen, fest-

gefügten Verwaltungseinheit zusammenschließen will, fordert Afghanistan für die Pathanen an seiner Ostgrenze Autonomie und freie Entscheidung darüber, ob sie bei Pakistan bleiben oder einen unabhängigen Staat Paschtunistan bilden wollen. Der Streit um diese Frage ist in den letzten Jahren so heftig geworden, daß es zu Ausschreitungen gegen diplomatische Vertreter gekommen ist und das afghanische Parlament von der „Befreiung“ der Auslands-pathanen spricht. Die Sowjetunion hat die Eingliederung Pakistans in das amerikanische Paktsystem dazu benützt, Afghanistan für den Fall eines Krieges militärische Unterstützung zuzusichern, und als Pakistan kürzlich vorübergehend seine Grenzen sperrte, schloß Afghanistan mit Rußland ein Handelsabkommen.

All das paßt sehr gut in das Konzept des Ministerpräsidenten Mahmud Daud, der in den drei Jahren seiner Regierung einen ausgesprochen rußlandfreundlichen Kurs verfolgt hat. Daß seine Macht ständig wächst, wird schon dadurch bewiesen, daß er am 2. Dezember seinen Kriegsminister und siebzig hohe Beamte und Offiziere verhaften ließ. Zugleich wächst aber auch die Zahl der sowjetischen Berater in Afghanistan. In den letzten zwölf Monaten hat sich der Stab der sowjetischen Botschaft in Kabul verdoppelt. Mahmud Daud ist keineswegs ein Kommunist, aber er hält es nicht für ratsam, dem übermächtigen Nachbarn irgendwelchen Widerstand zu leisten. Gleichzeitig hofft er, aus dem Konflikt zwischen Ost und West Kapital zu schlagen.

. Während die Amerikaner ihre großen, kostspieligen Damm- und Kraftwerksbauten in weitabgelegenen ' Teilen des Landes durchführen, verstehen es die Russen ausgezeichnet, ihre Hilfsmaßnahmen für Afghanistan propagandistisch auszuwerten. Schon auf der Khaiberpaßstraße, wo der Reiseverkehr am stärksten ist, begegnet man russischen Erdräummaschinen und Dampfwalzen; Russen pflastern die Straßen der Hauptstadt Kabul zum erstenmal und. in jedem Warenhaus findet man billige russische Waren. In Kabul hat es niemals Taxis gegeben

— nun haben die Russen die ersten zwanzig zur Verfügung gestellt. Auf Hügeln vor der Stadt haben sowjetische Mannschaften zwei riesige Getreidespeicher, eine Mühle und eine Großbäckerei gebaut und eine Benzintankanlage errichtet, die des Nachts hell beleuchtet und von allen Afghanen wie ein Wunder bestaunt wird. Bei all diesen Bauten handelt es sich, nicht um Geschenke; sie wurden auf Grund einer Ausschreibung der afghanischen Regierung errichtet, bei der die Sowjetunion alle anderen Bewerber um neun Zehntel überbot. Die Tschechoslowakei baut die erste Zementfabrik des Lahdes und liefert der afghanischen Armee, die über 60.000 schlechtausgerüstete Soldaten verfügt, neue Gewehre, und Geschütze. Rußland übernimmt heute den größten Teil der Ausfuhr Afghanistans und liefert ihm zugleich den größten Teil seines Warenbedarfs

— unter anderem das gesamte Benzin fr zu Reklamepreiscn. Es bleibt nicht bei den Waren: es ist in Afghanistan bereits allgemein üblich, daß die Zeitungen Artikel aus der „Prawda“ abdrucken.

So spielen sich historisch bedeutsamste Ereignisse ab. Man kann nicht übersehen, daß es Rußland seither gelungen ist, auf diesem Kontinent recht beträchtliche Erfolge zu erzielen. So können auch die Afghanen eines Tages aufwachen und finden, daß ihr Land zu einer Volksdemokratie geworden ist.

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