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Die Schiiten in Afghanistan

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Welche Rolle spielen die Schiiten in der anti-sowjetischen Bewegung in Afghanistan? Die Nachrichten aus diesem Unruheherd sind wohl zu unzuverlässig, als daß man auf diese Frage eine exakte Antwort geben könnte. Wohl aber dürfte im Rückspiegel der Geschichte manches sichtbar werden, das die Gegenwart leichter verstehen läßt.

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Welche Rolle spielen die Schiiten in der anti-sowjetischen Bewegung in Afghanistan? Die Nachrichten aus diesem Unruheherd sind wohl zu unzuverlässig, als daß man auf diese Frage eine exakte Antwort geben könnte. Wohl aber dürfte im Rückspiegel der Geschichte manches sichtbar werden, das die Gegenwart leichter verstehen läßt.

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Zunächst muß gesagt werden, daß Afghanistan nicht ein „verlorener Winkel", sondern vielmehr die Drehscheibe Eurasiens ist. Der Perserkönig Darius der Große machte bei seinem Eroberungszug nach Osten nicht in Afghanistan halt. Strategischen und wahrscheinlich auch wirtschaftlichen Notwendigkeiten folgend marschierte er bis zum Indus weiter.

Alexander der Große folgte seinen Spuren, aber nicht um zu erobern, sondern, wie es fast ironisch im Mak-kabäerbuch heißt, „um sich zu verteidigen". Dies gilt auch für die islamischen Eroberungszüge. Keiner blieb in Afghanistan stehen, alle drängten weiter nach Indien. Als Beispiel sei auch auf die Mogul-Herrscher mit ihren herrlichen Residenzen in Agra und Delhi verwiesen.

Auch religionsgeschichtlich gesehen gilt Afghanistan als Drehscheibe. Der Buddhismus ist nicht über den Himalaja oder Hinterindien, sondern über Afghanistan nach Tibet und China vorgedrungen. Die größten buddhistischen Klosterruinen mit der größten, 53 Meter hohen Buddhastatue befinden sich im Herzen Afghanistans, im romantisch gelegenen Hochtal von Bamian (2500 Meter).

Auf der Seidenstraße, die durch Afghanistan führte, gelangten auch die christlichen Missionare bis nach China. Die eigentliche religiöse Ernte hat aber auch in Afghanistan der Islam eingeheimst. Daraus wird verständlich, daß die ganze islamische Welt aufhorcht, wenn der Islam in Afghanistan in Frage gestellt wird. Aber um welchen Islam handelt es sich in Afghanistan?

Die erste Antwort überrascht nicht: Der Islam in Afghanistan ist, wie auch anderswo, in die sunnitische und die schiitische Richtung gespalten. Diese Spaltung entspricht ungefähr der Aufteilung in Stämme und Völker. Denn Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat.

Nach der Kolonialzeit wurde auch hier die Grenzziehung genau so unvernünftig vollzogen, wie in vielen anderen Ländern. Teilweise kommt diese Grenzziehung einer Vivisektion gleich: So gehören ungefähr sieben Millionen Paschtunen zu Afghanistan und sechs Millionen zu Pakistan. Ähnliches gilt von den Belutschen. Dazu kommen noch die Tadschiken, Turkmenen, Uzbeken, die Hasara und schließlich das staatstragende Volk der Afghanen.

Etwa 80 Prozent der Bevölkerung sind Sunniten, und zwar der hanifiti-schen Richtung, die auch in der österreichischen Monarchie wegen der Muslime in Bosnien als eine der staatlich anerkannten Religionen galt. Nur rund 18 Prozent sind Schiiten, die restlichen zwei Prozent fallen auf Ismaeliten und Anhänger anderer mystischer Sekten.

Bis zum Ende der Monarchie galt die Sünna als die einzig anerkannte Staatsreligion, die auf die Minderheiten einen gewissen Terror ausübte. So durften etwa die Schiiten die jährlichen Trauerfeierlichkeiten auf den Tod Husseins nur hinter verschlossenen Türen abhalten. Von einer Art sunnitisch-schiitischer Ökumene konnte man also in keiner Weise sprechen.

Trotz der zahlenmäßigen Minderheit darf man aber die geistige Macht der Schiah in Afghanistan nicht unterschätzen. Das unterscheidende Merkmal der Schiiten besteht doch darin, daß sie behaupten, der wahre Islam sei nur der, welcher sich auf leibliche Abstammung von Muhammad zurückführen lasse. Dies trifft jedoch einzig auf Muhammads Schwiegersohn Ali zu, der mit Muhammads Tochter Fatimah verheiratet war. Die aus dieser Ehe stammenden Immame gelten daher als die wahren Säulen des Islam.

Die Schiah selbst ist wiederum in zwei Richtungen gespalten: die sogenannte Zwölfer-Schiah (Iran und Afghanistan) zählt 12, die andere, die Siebener-Schiah, dagegen nur sieben echte Nachkommen Alis. Beiden gemeinsam ist aber der Glaube, daß der je Letzte nicht gestorben sei, sondern zu Allah entrückt wurde und am Ende der Zeiten wiederkommen werde.

Nun wissen wir aus der frühislamischen Geschichte, daß Ali nach der verlorenen Schlacht gegen die Omaj-jaden im Jahre 660 auf seinem Gang in die Moschee in Kufa von einem Terroristen mit einem vergifteten Säbel angegriffen wurde. Ali starb an dieser Vergiftung und wurde in der Nähe von Kufa begraben. Unter den Abbassiden soll das Grabmal, das zu einem schiitischen Wallfahrtsort geworden war, vollständig zerstört und dem Erdboden gleichgemacht worden'sein.

Dies mag nun der Ansatzpunkt für das Auftauchen eines neuen Ali-Grabes in Afghanistan gewesen sein: Denn die afghanischen Schiiten behaupten, daß der Leichnam Alis auf einen weißen Esel geladen wurde und man dem Tier freien Lauf nach Allahs Willen ließ. Schließlich blieb es in Nordafghanistan (man bedenke: nach Durchquerung ganz Persiens) bei der alten Stadt BalchlBaktria stehen, wo dann die Gläubigen dem großen Märtyrer ein würdiges Grabmal errichteten.

Dieses wurde im 11. Jahrhundert „entdeckt". Darüber wurde eine imposante, mit zwei Flachkuppeln versehene „heilige/herrliche Grabstätte" errichtet, was der heutige Name Mazar-i-scharif bedeutet. Es ist mir sonst nirgends gelungen, ein schiitisches Grabheiligtum zu betreten, außer eben in Mazar-i-scharif. Ich wurde freundlich aufgenommen und konnte - barfuß - bis zum Grab Alis vorgehen.

Aus meiner Erfahrung aus der Zeit vor dem sowjetischen Einmarsch kann ich keineswegs sagen, daß die Schiah - trotz der Unterdrückung durch die Sünna-, eine sterbende Religion gewesen wäre. Vielleicht hat gerade ihre Stellung im Schatten zu einer neuen Dynamisierung geführt, die vom Iran her Stärkung erhielt. Inwieweit man aber den Schiiten im Kampf gegen die Invasoren eine führende Rolle zuschreiben kann, muß offen bleiben, bis uns verläßlichere Nachrichten erreichen.

(Der Autor ist Vorstand des Instituts für Religionsiwssenschaft der Universität Graz)

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