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Diskussion

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Jede große Katastrophe hat neben allen bösen Folgen auch die eine gute, daß sie auflockernd wirkt. Sie wirft den Menschen aus dem festen Gehäuse seiner bisherigen Vorstellungswelt, sie setzt ihn äußersten Grenzsituationen aus, stellt ihn vor die letzten, wesentlichen Fragen; sie bringt ihn mit Menschen in engste Berührung, von denen er bisher durch eine Barriere überkommener Anschauungen, Denkgewohnheiten und Vorurteile getrennt war.

Auch die Katastrophe, die in den letzten Jahrzehnten über unser Volk und Land hinweggebraust ist, hat auf die von ihr betroffene und geprägte Generation diese Wirkung ausgeübt, und darin lag und liegt auch heute noch eine, vielleicht sogar, d i e große Möglichkeit und Aufgäbe für eine verantwortungsbewußte Presse und darüber hinaus für eine verantwortungsbewußte Politik. Die „Furche“ ist in dieser Situation gegründet worden und hat daher von Anfang an nicht nur eine Stimme aus einem Lager und für ein Läger sein wollen, sondern über die Grenzen des eigenen Lagers hinaus zu den Nachbarn im Geiste bis weit nach rechts und links gesprochen. Sie hat damit ein richtiges, offenes, für alle Beteiligten fruchtbares Gespräch in Gang zu bringen gesucht. In der Frage der Nationalsozialistengesetzgebung hat sie von Anfang an die Stimme für jene Gruppe unserer Mitbürger erhoben, denen diese wenig glückliche Gesetzgebung Unrecht zufügte, zugleich aber hat sie stets auch nach links, zur sozialistischen Arbeiterbewegung, ja sogar bis in das Lager des militanten Marxismus das Gespräch offengehalten. Das ehrliche Bemühen um eine ruhige, die Positionen klärende Aussprache ist — und darin darf man wohl ein verheißungsvolles Anzeichen und eine Bestätigung für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges erblicken — im Lager unserer Gesprächspartner wie auch im eigenen Lager im allgemeinen richtig verstanden worden.

Die psychologischen Voraussetzungen für die Ausbildung eines neuen, ruhigsachlichen Diskussionsstils sind heute wohl überhaupt günstig. Schlagworte und Radikalismen, Fahnen und Parteisymbole haben bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ihre Anziehungskraft verloren, die Parolen der Rhetoren und Demagogen vermögen nicht mehr zu zünden. Es wäre falsch, diese vor allem bei der jüngeren Generation feststellbare Tendenz bloß als „Ermüdungserscheinung“ zu deuten, ebenso falsch allerdings, die günstige Stunde für die Ausbildung eines neuen Gesprächsstils — und damit vielleicht eines neuen politischen Stils überhaupt — ungenützt verstreichen zu lassen.

In dem Maße nämlich, in dem die aufrüttelnde, die Menschen einander näherbringende Wirkung der weltgeschichtlichen Katastrophe nachläßt, in dem die Menschen im Zeichen der „Normalisierung“ sich wieder mehr und mehr zu Gruppen und Grüppchen zusammenschließen, wächst auch wieder die Gefahr der Isolierung und einer neuerlichen Verhärtung der Fronten. Um einer solchen Verhärtung — mit allen uns aus trauriger Erfahrung bekannten Fol-. gen — zu begegnen, muß das Gespräch zwischen den Fronten noch verstärkt, müssen die Möglichkeiten zur Begegnung vermehrt, möglichst viele Fenster , zwischen den einzelnen Gruppen und Grüppchen offengehalten beziehungsweise neu geöffnet werden.

Diesem Ziele dienen nicht nur die Gespräche grundsätzlicher politischer oder weltanschaulicher Natur, sondern ebenso auch jene Diskussionen, die von der „Furche“ über andere, die Allgemeinheit berührende Fragen eröffnet wurden. Neben der auf den ersten Blick erkennbaren Absicht, in der jeweiligen konkreten Frage zur Klärung der Meinungen und zu einer befriedigenden Lösung beizutragen, sollen auch diese Auseinandersetzungen zu einer Auflockerung der Fronten führen, da sich hier neue, für das politische Schubladendenken oft überraschende Bündnisse und Gegnerschaften ergeben. Dadurch, daß konkrete Alltagsfragen in den Vordergrund gerückt werden, verliert der Kampf der Ideologien viel von seiner Bedeutung und schließlich auch seinen pseudoreligiösen Kreuzzugscharakter. Die Abwertung der überspitzten Ideologien — eine der wichtigsten Aufgaben der Stunde — kann dadurch wesentlich gefördert werden. Denn, hat sich erst in der Behandlung der konkreten Alltagsfragen ein neuer Gesprächsstil, ein neues Gesprächsethos ausgebildet, so wird dieses wohl auch auf den Stil der politischen Auseinandersetzung zurückwirken.

Gewiß sind dabei noch mancherlei Hemmnisse und tiefwurzelnde Vorurteile zu überwinden. Manche Ämter, deren Tätigkeit oder Vorhaben einer kritischen Diskussion unterzogen werden, legen dabei eine gewisse Empfindlichkeit an den Tag. Sie ist wohl ein Rest aus der Zeit des „aufgeklärten Absolutismus“, dessen große Leistungen gerade in der österreichischen Geschichte nicht verkannt werden sollen, der aber in jeder abweichenden Meinung und jeder Kritik an der Obrigkeit eine „zu ahndende Widersetzlichkeit“ erblickt hat. Die dem Wesen der Demokratie zugrunde liegende Erkenntnis, daß alles öffentliche Wirken im Licht der öffentlichen Kritik vor sich geht und gehen muß, ja daß es schon um seiner selbst willen dies#e öffentliche Kritik braucht, hat sich noch nicht überall durchgesetzt. Auch der manchmal erhobenen Forderung, vor Eröffnung einer Diskussion immer erst mit der „zuständigen Stelle“ Fühlung zu nehmen, kann nicht in allen Fällen entsprochen werden. Denn so notwendig gewiß eine vorherige gründliche Beschäftigung mit der Materie ist — eine verantwortungsvolle Presse wird nie mutwillig die Öffentlichkeit beunruhigen und eine Diskussion bloß um der Diskussion willen vom Zaun brechen —, so hat doch die Erfahrung gelehrt, daß unsere Ämter bisweilen Meister darin sind, die öffentliche Meinung mit äußerster Liebenswürdigkeit und überzeugend vorgebrachten Scheingründen so lange von der Erörterung eines Problems abzuhalten — bis die endgültige Entscheidung gefallen ist.

Abwegig ist auch die Vorstellung eines stillschweigenden „weltanschaulichen Stillhalteabkommens“, wonach es gegen die politische Fairness verstoße, wenn ein Blatt das Vorhaben oder die Tätigkeit eines von weltanschaulich oder politisch befreundeter Seite geführten Amtes der öffentlichen Kritik unterzieht. Auch die ja immer drohende Gefahr hämischer Wiedergabe und bösartiger Mißdeutung durch politische Gegner darf nicht von einer sachlich begründeten Kritik abhalten.

Allerdings wird die Wirkung sachlicher Kritik nicht gefördert durch unwillkommene Bundesgenossen, die ihr um des journalistischen Effekts willen Absichten unterschieben, die weit über das von ihr tatsächlich Erstrebte hinausgehen. Es muß bei dieser Gelegenheit einmal festgestellt werden, daß gerade die Organe jener Mächte, die doch den Anspruch erhoben haben, den Bewohnern dieses Landes die wahre Demokratie zu bringen, allzu häufig selbst gegen die Spielregeln sachlicher Diskussion verstoßen und dadurch, daß sie jede Äußerung in die Front ihrer weltpolitischen Blockbildung ziehen und für ihre massive Propaganda auszuwerten suchen, die Entwicklung eines freien Gesprächs außerordentlich erschweren.

Zum Schluß noch eine Bemerkung zu dem leider so oft und so gedankenlos gebrauchten Schlagwort von der „fruchtlosen Diskussion“, bei der „nichts herauskomme“. Gewiß gibt es Diskussionen, bei denen sich zum Schluß alle Gesprächspartner auf ein „Ergebnis“ einigen — nur haben solche Diskussionen meist den kleinen Schönheitsfehler, daß dieses „Ergebnis“ schon vor Eröffnung der Aussprache feststand, daß es sich also um ein Scheingefecht, um eine „gestellte“ Auseinandersetzung handelt.

Gerade die Angelsachsen mit Ihrer jahrhundertealten Gesprächskultur und Diskussionstradition stellen bezeichnenderweise fast nie die Frage nach dem „Ergebnis“ einer Diskussion. Denn der Wert auch des scheinbar ergebnislosesten Gesprächs liegt unter anderem eben darin, daß sich jeder Gesprächspartner über seine eigene Position klar wird, daß er seine Schwächen, ja oft erst überhaupt die Problematik dort erkennt, wo ihm bisher alles einfach und unproblematisch erschien, und daß er gezwungen wird, die Stichhältigkeit seiner Argumente genau zu überprüfen; vor allem aber darin, daß aus dem geistigen Ringen, aus der freund-feindlichen Auseinandersetzung jene gegenseitige menschliche Ächtung und zu-tiefst christliche Feindesliebe erblüht, die in unserer verhärteten Zeit eine der stärksten Gegenkräfte gegen die Mächte des Unmenschlichen darstellt, i

In der Ausbildung und Pflege eines fairen und sachlichen Diskussionsstils und in der Freimachung dieser seelischen Kräfte liegt, über die konkrete Notwendigkeit der Einzelfrage hinaus, die letzte Aufgabe und Rechtfertigung jeder Diskussion. Wer sich zu diesen Grundsätzen, zu dieser Gesprächsethik bekennt, soll als Partner willkommen sein.

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