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Durclis Grimmingtor

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ES REGNET AN DIESEM NACHMITTAG. Der Grimming, den man gut ein paar Autostunden lang umfahren und dabei in jeder Minute anders sehen kann, ist in Gröb-ming noch blank gewesen wie eine frisch gescheuerte Stiege. In Stein fallen schon wässerig graue Schatten ein. Am Bahnhof in Oeblarn aber gießt es in Scheffeln, und auf dem Berg hängen die fahlen Tücher, mit denen ihn die Saugen putzen und waschen.

Das Tor aber, jenes seltsam gewölbte dunkle Gebild im lichten Fels, das Tor, das den liebeswütigen, schatzgierigen Jäger verschlungen hat — wo ist das Tor, das Grimmingtor?

VOM ÖBLARNER BAHNHOF sind es nur ein paar Minuten zum Grogger-Haus. Wenn wir Grogger-Haus sagen, so meinen wir heute nicht mehr das Vaterhaus der Dichterin, das ein paar Schritte weiter, schräg gegenüber dem heutigen Wohnhaus Paula Groggers, in der rechten Straßenzeile steht. Zwar, eine gewisse Wohlhabenheit ist auch jenem Vaterhaus noch heute ins Gesicht geschrieben, aber sie ist fein gelenkt, vergenossenschaftet, nicht mehr so privat opulent wie zu Zeiten Ae$ Großvaters und des Vaters Grogger.

Die Tochter des unternehmungslustigen, reichen Vaters, Elsen- und Maschinenhänd-lerSj wohnt einfacher und stiller, ganz nahe davon, in einem hübschen Ennstaler Landhaus, hinter Zaun und Hecke und Blumen, behütet von einer Tafel, die unerbittlich streng — wie beim Zahnarzt — die Besuchszeiten regelt, Wie notwendig sie ist, wird uns eine Stunde später sonnenklar. Es ist nämlich — erfahren wir da — schon vorgekommen, daß Besucher um sechs Uhr früh am Türl läuteten und schnell noch die in allen Literaturgeschichten und Reiseführern genannte Frau sehen wollten, ehe sie in die Walchen oder aufs Gumpeneck steigen wollten. Lieberhaupt: die Bergsteiger! Einer wollte die Dichterin des „Grimmingtor“ sehen, zog aber grimmig enttäuscht und mit einem fast verächtlichen Achselzucken ab, als ihm Paula Grogger mit allem Freimut bekannte, daß sie zwar tausendmal auf dem fliegenden Roß der Phantasie, niemals aber mit „Genagelten“ den Berg bezwungen.

DIE GUTE STUBE im ersten Stock, in der wir dann der seltsamen Frau gegenübersitzen, ist an diesem Nachmittag in schummeriges Dunkel gehüllt, aber vielleicht gerade darum so rührend anheimelnd. Die heute 66jährige, jeitlebens nur mit den Gestalten ihrer Dichtungen verheiratete Frau hat etwas Mütterliches an sich. Vielleicht kommt es daher, daß sich in das durchscheinende, vergeistigte Gesicht jene feinen Schmerzenslinien gezeichnet haben, die von still getragenen Krankheiten kommen und von jenen leisen Enttäuschungen, wie sie eben Mütter immer wieder an ihren Kindern, auch den wohlgeratenen, erleben.

Zwischen dem runden Tisch und einem Fenster hängt an der Wand ein nachgedunkeltes kleines Oelbild in altem Rahmen. Es kann nicht anders sein: das ist Constantia Sorger, verehelichte Stralzin, die Frau mit dem großen Herzen, dns für den Gatten brannte und so sehr an dem einen, ältesten Sohne litt, die Heldin jener großen österreichischen Dichtung, die aus dem Dorf gekommen und in die Welt gegangen ist.

Unter des Bildes magischen Lichtern und Schatten gedeiht an diesem Nachmittag ein langes (weit länger als vorgesehen) und gutes Gespräch und nimmt ein bewegtes, reiches Leben und Schaffen fast schmerzend deutliche Gestalt an.

ES HEBT - am 12. Juli 1892 - mit einer ungetrübt frohen Kindheit im Dorf an. Das

Kind sieht noch nicht die herbe, schöne „Landschaft“, das malerische Dorf Oeblarn im steiri-schen Ennstal, von dem der Walchengraben tief in die sanften Buckel der Niederen Tauern schneidet, während das Gesicht des Haufendorfes wie gebannt nach Nordosten, in die schroffen Kalkwände des Grimmings, starrt. Es weiß im Grunde auch noch nichts von Natur und Brauchtum, Geschlecht und Sitte — oder wie wir's nennen mögen —, aber es erlebt Eltern und Lehrer, Menschen und Tiere, Sommer und Winter, Weihnacht und Ostern, und diese Bilder werden langsam Kräfte, und die Kräfte werden Säfte und Springbrunnen, und diese Anschaulichkeit wird einmal einer der stärksten Züge ihrer Dichtkunst, gleich, ob Vers oder Prosa, sein: sie ist immer Geschautes, Gehörtes, Geschmecktes, Erlebtes; sie ist immer Eindruck, nicht Ausdruck.

Nur in einem ist das sonst so natürliche Kind ungewöhnlich. Das Vers- und Reimgefühl ist dem Kind so angeboren, daß es schon vor den ersten Schulmonaten „dichtet“ und das gleiche auch von der Umwelt voraussetzt, ja fordert.

Unverkennbar ist in dieser frühen Anlage des Kindes die Wurzel jener sprachschöpferischen Kraft zu suchen, mit der die Frau einmal drei Stile, die arabeskenreiche Chroniksprache, das saftige Mundwerk der Doitbauern und eine förmlich zelebrierende, bisweilen herrisch mit Wort- und Satzlehre umspringende Schriftsprache eigenen Geblüts, in allen Sinnen des Wortes: eine hochdeutsche Kunstsprache souverän meistern wird.

In einem geistlichen Internat, wie die Handel-Mazzetti und Paula von PreradoviC, in der Lehrerinnenbildungsanstalt der Ursulinen in Salzburg, wächst und reift in den Jahren 1907 bis 1912, was dann 19 Jahre lang in den Schulen von Schladming, Wörschach und Oeblarn reiche erzieherische Frucht trägt sicherlich aber auch, was dann 1926, nach zäher, stiller sechs- bis siebenjähriger Arbeit, explosionsartig aufleuchtet, das ganze deutsche Sprachgebiet in seinen Bann schlägt und die angelsächsische und skandinavische literarische Welt, ja die Neue Welt aufhorchen läßt: Paula Groggers Roman „Das Grimmingtor“.

KUPFER, SILBER, GOLD UND ERZE sind noch im 17. und 18. Jahrhundert im Walchengraben gefunden worden, die alten Schmelzöfen stehen noch. Damals vielleicht noch unbekannte schimmernde Erze und Metalle hat es auch auf dem Grimming gegeben: ihr Glanz hat die rege Phantasie der einfachen Leute angeregt. So entstanden die Sagen um das Grimmingtor, deren eine Lesart dem Roman Paula Groggers den Auftakt, ja die Tonart gegeben hat. Was wäre aber die Geschichte von dem sündigen Jäger, der, um das Weib des Stralzen zu gewinnen, zu Fronleichnam auf der Schatzsuche im Grimmingtor für immer verschwindet, doch aber auf geheimnisvolle Weise auf das folgende Leben der Stralzin und besonders des einen Stralzenbuben Schatten wirft, allein — ohne die pralle Fülle der Figuren, der menschlichen Schicksale, des dörflichen Lebens, Rackerns und Feierns und der wildbewegten Franzosenzeit: und vor allem ohne die volltönende Instrumentation der barocken, Himmel und Erde zusammenzwingenden Sprache der (fingierten) Chronik!

In zwei Dingen ähnelt Paula Grogger ihrer von ihr immer geachteten und geliebten Lehrmeisterin Enrica von Handel-Mazzetti. In beiden scheint uns Paula Grogger heute näherzustehen. Ihre bestürzende Konfrontation von Aberglauben und Glauben, heidnischer Natur und christlicher Kultur empfinden wir Heutigen, in die unerbittliche Auseinandersetzung zwischen Glauben und Unglauben Geworfenen, brennender als der Handel-Mazzetti verdienstvolle, für ihre Zeit so aufregende, aber doch auch wieder zeitgebundene Versöhnung der beiden Pole der Gegenreformation. Der Handel-Mazzetti antikisierendes „Frühneuhochdeutsch“ wieder trägt deutlich den Stempel eines bedachten, virtuos gehandhabten, kopierenden Kunststils: Paula Groggers Chronistensprache im „Grimmingtor“ dagegen, aber auch der Rhythmus und die Wortfarbe in ihren Bühnenspielen, Prosalegenden und Mundartgedichten steigen aus ländlichen Urkräften, sind etwas durch und durch Neuartiges und Erregendes in dieser verstädternden Welt, etwas Schöpferisches. Das „Grimmingtor“ ist Neuland, wie es zugleich die letzte große Dorfgeschichte ist. Mehr noch: dieses Buch ist ein Naturereignis.

DAS BUCH HAT SEINE GESCHICHTE. Sein Manuskript ist lange Zeit von Verlag zu Verlag gewandert, bis der damalige Ostdeutsche Verlag in Breslau (Viktor Kübczak), von Max Meli aufmerksam gemacht, das Wagnis unternahm. Das Buch schlug ein. Es ist bewundert, in viele Sprachen übersetzt (ein Wunder innerhalb dieses Sprachen-Pfingstwunders!), über alles geliebt und mißverständlich angefeindet worden. Eine besonders unfaire literarische Attacke eines zu seiner Zeit angesehenen, heute schon verstorbenen Salzburger Schriftstellers hätte dem Buch beinahe in kirchlichen Kreisen jene fatale Verkennung eingetragen, die auch Enrica von Handel-Mazzetti und noch in unseren Tagen Gertrud von Le Fort („Der Kranz der Engel“!) widerfahren ist. Darüber sind indes viele Wasser die Enns hinuntergeronnen, und wer Paula Grogger wirklich kannte und kennt, wird wohl niemals ernstlich an ihrer alle Mißdeutungen ausschließenden kirchentreuen Haltung gezweifelt haben. Aber, es ist nun einmal geschehen, und wenn die Frau heute davon spricht, behutsam, schonungsvoll, schmerzlich zwar, wird man das Gefühl nicht los, daß die Wunde noch nicht ganz vernarbt ist. Vielleicht ist es auch dieser kurzen, aber heftigen, unglücklichen literarischen Fehde, die keine theologische hätte sein dürfen, zuzuschreiben, daß wir bis heute nur ein und nicht mehrere „Grimmingtor“-Bücher haben ...

NUN HABEN WIR ZWAR ein reiches Werk der Dichterin, gedruckt und teilweise aufgeführt, vor uns liegen. Ganz und gar irrig wird es nicht selten neben dem „Grimmingtor“ unterschätzt, ja manchmal als bloßer Abfall der großen Romandichtung angesehen. Gerade die reife, unterschiedliche Fülle dieses Werkes aber, die von Mundart- und Schriftdeutschgedichten über Prosalegenden und autobiographische Skizzen zu ernst zu nehmenden Laien- und schon in festlichen Feuertaufen gehärteten patriotischen Spielen reicht, scheint so recht erst die poetische' Spannweite, die dichterische Urgewalt Paula Groggers zu erweisen.

Es begann schon zu Anfang des ersten Weltkrieges, 1916, also lange vor dem „Grimmingtor“,-daß sich Gestalten oder Bilder aus dem späteren-ftoihan “in Spielen abzeichnete'Die?“ Muadei in der „Spinhstuberilegende“ erschienen 1 im „Wiener Mittag“, 1920) ist bereits unverkennbar, die Regina des „Grimmingtors“. Zwei weitere Legendenspiele folgten 1933/34. Sie stehen zwischen Hofmannsthal und Meli und haben in barocken Vorbildern einen gemeinsamen Vater. Knapp vor dem zweiten Weltkrieg erfährt diese Linie in Paula Groggers Werk ihre Krönung in dem vierstündigen, an 300 Personen auf die Bühne stellenden Erzherzog-Johann-Spiel „Die Hochzeit (zu Gstatt)“, dem die Oeblarner Einwohner unter der Führung eines kunstehrgeizigen und kunstsinnigen Spielleiters 1936/37 eine Reihe undilettantischer, würdiger Festspielaufführungen im Ort bescherten.

Daß die neun Prosalegenden, die zwischen 1927 und 1949 erschienen sind, keine bloßen, schwächlichen“ Nachfahren zum „Grimmingtor“ sind, erweist allein schon das rege Interesse des Hausverlages der Dichterin, der nach dem zweiten Weltkrieg laufend Neuauflagen davon herausbringt. Von den autobiographischen Skizzen ist die bedeutendste die soeben im Brentano-Verlag erschienene „Reise nach Salzburg“. In den schmunzelnden Humor dieses Buches, der den matt schimmernden Glanz unverwelkter früher Kindheitserinnerungen hat, sind auch kräftigere Farben getupft. Stadt und Inwohner, ausländische und inländische Besucher von Salzburg sind trotz des reizvollen, echten Zeit-kqlorits aus dem Fin de Siecle auch ein wenig unter heutiger Lupe gesehen, da die internationalen Farben auf dieser lebenden Festspielbühne Europas längst zur Szene gehören:

„Schließlich flüsterte ich dem Vater zu: Sand das Aristokraten oder Deutschländer? Das sand Preußen, gab er mir zur Antwort. Spättr machte er mich auf ein paar Franzosen und Engländer aufmerksam.“

Die mit ehrfürchtigem Abstand gemalten Porträts von Mutter und Vater und die entzückende Miniature der heute in Irdning lebenden jüngeren Schwester Hildegard haben die treffsichere Plastik der „Grimmingtor“-Figuren. Wie unter einem feinen Schleier aber regen sich in der „Reise nach Salzburg“ in dem Kinde Paula Grogger selbst schon jene poetischen Ansätze, die in aller kindlichen Art (und Unart) schon vorwärts weisen und Großes ankündigen.

Wir haben schließlich die nach dem zweiten Weltkrieg (1947 und 1952) veröffentlichten Mundart- und die stellenweise von eigentümlicher Schwermut und Skepsis umschatteten Schriftsprachegedichte — wohl nur ein kleiner, freilich sehr, sehr kritisch auswählender Griff aus einer unübersehbaren Fülle von in alle Winde verstreuten Versen und Poemen.

WIR HABEN ALSO, wir haben, wir haben.

Was aber haben wir nicht?

Was wartet, fertig, halbfertig, skizziert, geplant, auf die Veröffentlichung?

Und — warum wartet es, muß es warten?

Muß es wirklich warten?

Alles Fragen, die ein Stück Leben, ein Kapitel Dichterleben, vielleicht einen Akt eines richtigen Dramas berühren.

WIR HABEN NICHT (siehe die untenstehende Werkliste): ein ungedrucktes, fix fertiges Paradeisspiel; wir haben nicht den Entwurf zu einem Oesterreich-Spiel, einem großen Schaubild mit richtigen Ansätzen zum Filmdrama (die verpaßte Chance von Marboe-Liebeneiners „Oesterreich-Film“!), das aus dem Jahre 1913 in den ersten Weltkrieg und in die Not der Nachkriegszeit fuhrt, aus dem Dorf in die rauchenden Eisenerzer Essen, aus dem Alten ins Neue — ein sinnträchtiges österreichisches und Weltschicksal. Ist keine Möglichkeit, diesen leuchtenden Sinnbildern und hämmernden Versen Gestalt zu geben? Ist keine Festspielgemeinde oder Kunstgemeinde da, die im kommenden Erzherzog-Johann-Jahr der „Hochzeit von Gstatt“ eine würdige, nicht zu knauserig dotierte Aufführung sichert?

Wir haben nicht: die Zusammenfassung der erwähnten autobiographischen Skizzen zu einem großen Ganzen, das einmal den Titel „Der Paradeisgarten“ bekommen soll, und wir haben — siehe oben — nur ein Bruchstück („Der Antichrist und Unsere Liebe Frau“) von dem, was einmal ein zweites „Grimmingtor“ werden und „Die liebe Frau von der Einöd“ heißen soll. Ihm soll noch ein dritter Band, „Johannes“, folgen, der im Jahre 1848 und mit dem noch lebenden 99jährigen Stralzen schließt.

MAN KANN SICH MIT TEILERFOLGEN Krankheiten und „der Jahre“ erwehren, man kann vielleicht noch des eigenen Dranges zu überstrenger Selbstkritik Herr werden, ja es ist sogar denkbar, mit einer österreichischen Gnadenpension ein bedürfnisloses Leben im Dorf zu fristen („Die Kunst ist allweil a un-sichers Brot“, steht im Hochzeit-Spiel). Verzweifelt aber ist es, gegen unsichtbare Schatten zu kämpfen und über Unvollendetes trauern zu müssen. Es ist ganz einfach nicht wahr, daß mit dem „Grimmingtor“ etwas Großes begonnen — und zugleich geendet hat. In Paula Grogger ist, über tausend Hemmungen hinweg, alles noch Hoffnung und Erwartung auf die letzte, reiche Erfüllung. Da sie sich's selber so schwer macht, sollten wir ihr's leichter machen: wir könnten es — Dichter leben und leben auf in Wärme, Liebe und Verständnis, und sie sterben ab an kalten Herzen.

WIR KOSTEN - Frau und Kind und ich -an diesem Nachmittag bei Paula Grogger von Küche und Keller, vom selbstgebrauten Ribiselwein vor allem, kramen in Bildern und Dokumenten und erfahren einiges, was man wiedergeben, und vieles, was man nicht schreiben kann. Es steht darüber im „Spiel von Sonne, Mond und Sternen“:

„Gute Tage, böse Tage

Halten auf der Gotteswaage

Gleichgewicht.

Für die Lieb in unsrem Leben Wird uns einst die Schuld vergeben Beim Gericht.“

Ist's die Liebe der Wohlmeinenden, Miterlebenden, die einmal die Schuld der Harten, Verständnäslosen tilgen wird?

Da wir am Oeblarner Bahnhof in den Abendbummelzug steigen, hat der Regen aufgehört. Die Nebel heben sich auf dem Berg und geben das Tor frei, das, „Grimmingtor“.

Es leuchtet und flimmert. “

Der Schatz ist noch immer nicht gehoben.

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