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Erich Loest schrieb einen Roman über die Folgen jahrzehntelanger Indoktrination

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Eine hochangesehene Familie in der DDB: Der verstorbene Vater hochdekorierter politischer Funktionär und General der Volkspolizei, der Bruder hoher Offizier im Überwachungsdienst, nur Astrid Protter, die Heldin des Romans „Nikolaikirche" von Erich Loest, fällt aus der Reihe: Sie beginnt plötzlich die seit ihrer Kindheit eingelernten Parolen zu hinterfragen und über die Mauern des durchorganisierten Überwachungsstaates hinauszudenken. Eine undefinierbare Depression ist der Anlaß - die Auswirkungen ihres Nachdenkprozesses bringen ihr gesamtes Weltbild ins Wanken und ihre Familie in Gefahr.

Sie schließt sich mit einer Frau, deren Sohn von einem sowjetischen Panzer „irrtümlich" erdrückt wurde, einer Friedensgebetsgruppe an und geht - allen Warnungen ihres besorgten Bruders zum Trotz - das Risiko ein, ihren Job als erfolgreiche Architektin zu verlieren und im Gefängnis zu landen.

Doch selbst die Aufbruchsstim-mung dieser mutigen Frau ist von der Beklemmung der vielen Opfer rund um sie bestimmt: Priester, engagierte

Studenten und ganz gewöhnliche Leute werden perlustriert, überwacht, inhaftiert, verhört und immer wieder in ihrem beruflichen und privaten Alltag auf unerträgliche Weise beeinträchtigt, wenn sie am „Glanz der DDB" kratzen.

Beklemmend ist auch die Sprache: Knapp und karg, immer wieder thematisch springend, manches ist unausgesprochen zwischen den Zeilen erahnbar. Vorsichtig und von Überwachung bedroht wirkt sie, was die Intensität des Bomans verstärkt. Der Zynismus der Überwacher ist in dieser Sprache wie ein eiskalter Hauch spürbar - als Gegenpol die Aufbruchsversuche der Friedens- und Umweltbewegten in den Gebetskreisen, die sich mit Bibelzitaten verständigen und einander das bißchen Wärme zum Überleben spenden.

Die Friedensgebete in Leipzig, die ab 1981 regelmäßig in verschiedenen Kirchen stattfinden, sind der SED-Bezirksleitung ein Dorn im Auge. Die Idee eines sozialen Friedensdienstes wird als Aufwiegelung gewertet. Die Partei reagiert: „Wir haben den Pastoren klar gemacht, daß wir Bitten an Gott dafür nicht mögen."

Erich Loest schildert das Leben in der DDB knapp vor der Wende eindrucksvoll. Er zeigt, wie stark sich die Überwachung und Unterdrückung im alltäglichen Leben fast wie selbstverständlich eingenistet hat. Er macht deutlich, daß die strenge Hierarchie und Bespitzelung auch innerhalb des Überwachungssystems ebenfalls zum System gehört, mit unmenschlichen Auswirkungen auf private Beziehungen und auf das Vertrauen der Menschen zueinander.

Selbst innerhalb der Familien oder bei den Treffen von Auswanderungswilligen in den kirchlichen „Gebetskreisen" kann man nicht sicher sein, „unter sich zu sein". Immer gibt es Informanten nach außen - jeder kann ein Verräter sein.

Der Roman vertieft das Verständnis für die Situation der „Ossis" auch nach der Wende: Die schwere Last der jahrzehntelangen Propaganda für die staatliche Lenkung aller öffentlichen und privaten Lebensbereiche, der geschürte Haß auf alle „kapitalistischen Länder im Westen" und die weit verästelte Überwachungsmaschinerie werden greifbar und wirken im Heute bedrohlich nach. Daß viele Phrasen fast im gleichen Wortlaut unter anderen Vorzeichen auch in der westlichen Politikersprache zu hören sind, macht das Buch zu einem literarischen Werk, das sich mit keinem der üblichen billigen Etiketts abtun läßt.

„Jeder, der alt genug war, wußte, daß es bisweilen an einem Zufall gehangen hatte, ob einer Nazi oder Kommunist geworden war. Klassenbewußtsein hin oder her, dort hatte ein SA-Führer mit Stiefeln gewinkt und ein paar Straßen weiter ein KP-Funktionär mit einer Schalmei. Der hatte seinen Bruder dort gehabt und der seinen Freund da, weder hatten die einen ,Das Kapital' noch die anderen ,Mein Kampf gelesen", meint ein braver Genosse aus der Bezirksverwaltung.

Erich Loest, selbst viele Jahre von der Zensur verfolgt und aus politischen Gründen in Bautzen inhaftiert, entwirft am Beispiel der DDB und ihrer Machtstrukturen vor der Wende ein genaues Bild von mißbrauchten politischen Parolen und mißbrauchter Macht. Es zeigt die persönlichen Opfer von Kritikern und Andersdenkenden, die auch in vielen demokratischen Staaten - wenn auch subtiler und weniger deutlich erkennbar - gefordert werden.

NIKOLAIKIRCHE

Roman von Erich Loest

Luiden 1 erlag. Leipzig 1995 mm 520 Seiten, geb., öS 375,-

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