6683375-1962_03_11.jpg
Digital In Arbeit

Europas diiliastisdier Untergrund

Werbung
Werbung
Werbung

DAS RINGEN UM DAS TAUSENDJÄHRIGE REICH. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen. Von Norman Cohn. Francke-Verlag, Bern und München, 1961. 350 Seiten. Preii 29.50 sfr.

Norman Cohn, geboren 1915 in London, Professor an der Universität Durham, legt hier ein Werk vor, das von großer Gegenwartsbedeutung ist. Unser europäisches Mittelalter hat von der Antike und der explosiven Situation im spätantiken römischen Weltreich neben vielen erlesenen Gaben ein Gift geerbt, das in unserer Zeit in Europa, Afrika, Asien schwere Verwüstungen geschaffen hat: einen plebejischen, dekadenten, religiöspolitischen Eschatologismus. Der Träume, Visionen und Sehnsüchte um das tausendjährige Reich, um das „Dritte Reich“, gibt es viele, nicht zuletzt seit Lessing, der zum ersten Male wieder auf Joachim von Fiore und die Joachimiten des 14. Jahrhunderts aufmerksam machte. Apokalypti-ker, Propheten und Pseudopropheten, Visionäre und Ekstatiker: schier zahllos ist ihre Zahl seit dem ersten und zweiten christlichen Jahrhundert, wobei ihre Vorväter jüdischer, persischer, kleinasiatischer Provenienz noch um ein gutes Jahrtausend zurückreichen. Norman Cohn hat aus der Uberfülle des sich anbietenden Stoffes eine strenge Auswahl getroffen: er untersucht plebejische Bewegungen, Revolten und Revolutionen vom 11. zum 16. Jahrhundert, in denen Führertypen eigener Art Massen zusammenballen, die unter dem Druck von Hunger, Not, Pest, Krieg, nicht zuletzt von seelischen Erkrankungen, sich einem „Führer“ auf Leben und Tod verschreiben. Im späten 11. Jahrhundert, im Zusammenhang mit der frühen Kreuzzugsbewegung, treten diese Führertypen ins volle Licht der Geschichte: es sind, soweit ihre gesellschaftliche Herkunft erkennbar ist, Geistliche niederen Ranges, entlaufene Mönche, gescheiterte Asketen, daneben niedere Adelige und ein gewisser Bodensatz aus dem Niedervolk und einer gescheiterten Intelligenz. Hervorragende Redner, Pathetiker, Gewaltmenschen, nihilistische „Ubermenschen“ eigener Art, stehen da neben armen, betrogenen Betrügern, die fast wider Willen in bereits vorhandene Bewegungen geraten. Es ist zunächst der Raum des früh übervölkerten Nordwesteuropa, dann der rheinische Raum, Frankreich, im Spätmittelalter auch England und Böhmen: Brandherde, in denen sich die Funken unter der Asche halten, bis sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert in rechts- und linksradikalen Bewegungen wieder hochkommen.

Vernichtung der „Bösen“, der Satansknechte, das ist ihr Ziel: unter diesem Motto werden zunächst die Juden massakriert, dann auch der Klerus. Unser europäisches Mittelalter weist, was von Romantikern übersehen wird, mehr Morde an Bischöfen, Klerikern, mehr Schändungen von Kirchen, mehr Klosterstürme auf als unsere ,, säkularisierte“ Neuzeit im 18. und 19. Jahrhundert. Hitler einerseits, linksradikale Schwärmer anderseits reaktivieren diese plebejischen Bewegungen und stehen als „Führer“, als Heilsführer, in der direkten Nachfolge ihrer mittelalterlichen Vorgänger. Im Geburtsjahr Hitlers starb sein entfernter Verwandter, der Dichter Robert Hamerling. Dieser hat in seinem Wiedertäuferepos „Jan van Leyden“ den Weg des Adolf Hitler und seiner ekstatischen Rotte vorhergesehen. Als Hitler heraufkam, hat ein Preuße. Friedrich Reck-Malleckzewen, Hitlers Bewegung in einem Wiedertäuferroman direkt angesprochen: er wurde dafür im KZ vernichtet. Lenin, der aus dem riesigen Potential des russischen Untergrundes schöpfen konnte, stammt mütterlicherseits aus schwäbischen Sektiererkreisen ab, seine Mutter ist eine geborene Blank. Wer die Untersuchungen von Emanuel Sarkysianz über das Zusammenspiel russischer volksmessianischer Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert mit messianischen Bewegungen in Asien kennt und wer heute die heiße Sprache afrikanischer und asiatischer nationalkommunistischer und verwandter Volksführer hört, kann — an Hand des reichen, von Norman Cohn vorgelegten Materials — aus ihnen die Worte der mittelalterlichen messia-nistischen Volksführer heraushören.

Die großen rabiaten Bewegungen unserer Zeit waren sich in einzelnen ihrer wortführenden Persönlichkeiten dieser Zusammenhänge voll bewußt. Wenn heute die Machthaber der DDR in Ost-Berlin sich auf Thomas Müntzer und die deutschen Bauernpropheten und plebejischen Revolutionäre des 16. Jahrhunderts berufen und sie durch Dokumentarausstel-lungen, Betriebsbenennungen usw. ehren, können sie sich dabei auf Friedrich Engels stützen — und auf einen tatsächlichen untergründigen Zusammenhang, der zumal im thüringisch-sächsischen Raum offenkundig ist. Auf der anderen Seite haben Rosenberg und eine ganze Reihe von Ideologen der „Bewegung“ Hitlers sich zu den ekstatischen Schwärmerbewegungen des Spätmittelalters bekannt.

E i n Schema ist den linken und rechten Söhnen und Sprößlingen dieser mittelalterlichen Erhebungen eigen: der Erzfeind, der als Teufelstrabant, Antichrist, Teufelsjude, Teufelspfaffe angesehen wird, muß vernichtet, muß total ausgerottet werden. Dann erst kann das „Reich“ erscheinen. Ein militanter Führer-Heiland, der seine nächsten Feinde nicht selten mit eigener Hand tötet, wird das neue Reich bauen, mit Waffengewalt. Er umgibt sich mit einer bewaffneten Rotte von „Auserwählten“, die nicht selten bis zum letzten Mann fallen, wenn es ihnen nicht gelingt, unterzutauchen. Jüdische messianistische Führer um die Zeitenwende liefern die ersten Modelle für diese Führertypen, ihre Rotten und religiös-politischen Parteien. Es ist das Verdienst Norman Cohns, mit wachem Gegenwartsbewußtsein die breite Verästelung dieser Bewegungen in unserem europäischen Mittelalter aufzuzeigen. Eine große Frage stellt der Historiker und Zeitgenosse — nach der Lektüre und dem Studium des hier von Norman Cohn aufbereiteten Materials — nicht an den Forscher, wohl aber an sich selbst: wie groß muß untergründige Verzweiflung, wie mächtig muß die Fehlerziehung, wie tief muß der Leerraum in den Geistern und Seelen sein, daß eben diese Erhebungen seit tausend Jahren immer wieder gerade auch unser Europa erschüttern können.

Immanuel Kant hat im Blick auf sein Deutschland im späten 18. Jahrhundert bereits dies ersehen: Inseln der Ratio, der Vernunft und Humanität, schwimmen auf einem Meer, das von irrationalen Kräften und Leidenschaften immer wieder aufgepeitscht wird und dann alle Dämme zu durchbrechen droht. Es ist wichtig, dies zu wissen — und Norman Cohns „Ringen um das tausendjährige Reich“ stärkt dieses Wissen: unsere innere und äußere Freiheit, unsere Demokratie ist nicht „gesichert“. Es gibt keine Versicherung in der Geschichte, im Leben. Jederzeit können aus dem unbetreuten oder nur „übersehenen“ Untergrund unserer Völker und unserer Seelen Männer aufstehen, wie ein Tanchelm, ein „Meister aus Ungarn“, ein Im van Leyden, ein ... Nicht ihre Geburt kann verhindert werden, wohl aber könnte dies behindert werden: die Schaffung eines psychotischen Klimas, in dem Haß, Neid, mörderische Schlagworte die wahren Regenten, die Herrscher des Tages sind. Die militanten Heilsführer des Mittelalters konnten ihre Rotten und Bewegungen nur bilden, weil ihnen ein riesiges Material der Hetze zur Verfügung stand. Und heute?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung