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EX ORIENTE SHAKESPEARE?

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Es war im Jahre 1917. Ich war ein Jahr aus der russischen Gefangenschaft zurück, als mir eine Broschüre in die Hand fiel, in der alles, was ich in Rußland erlebt hatte: die Weite, die Unberechenbarkeit der Menschen, das Schrumpfen dessen, was der Westen Wahrheit nennt, das Uferlose, so dargestellt war, daß es wie erlösend wirkte. Der Verfasser war Erwin Hanslik, als Verlag war ein Institut auf der Mölker-Bastei genannt. Ich wollte mir bei Hanslik Rat holen, der im Osten keine Bedrohung, sondern eine große Zukunft gesehen hatte.

Ich suchte den Professor in seinem Institut auf. Treppe um Treppe stieg ich hoch, mein zerschossenes Bein schmerzte. Ich hatte mir ein großes Institut, einen Neubau für neue Ideen, aus Beton und Eisen vorgestellt, mit einem Netz von Telegraphendrähten auf dem flachen Dach und mit einem Startplatz für Flugzeuge gleich neben dem Haus — denn Aufmachung und Druck der Broschüre hatten etwas von großer Welt an sich.

Im Dachgeschoß war an der Tür gegenüber dem Bodeneingang die Visitenkarte des Professors mit einem Reißnagel befestigt. Ich klopfte. Keine Antwort. Ich wartete und klopfte wieder. Endlich öffnete ich die Türe und ich stand in einem Vorraum mit Besen und Kübeln, an denen noch die Preiszettel hingen. Ich ging weiter und kam in ein Zimmer mit zugezogenen Rollos. Im Halbdunkel erkannte ich einen auf dem Diwan liegenden großen Mann, der den Kopf turbanartig mit einem Handtuch umwunden hatte. Der Mann richtete sieh langsam auf. Ich fragte nach dem Institut.

„Das Institut bin ich”, sagte der Mann. „Was führt Sie zu mir?”

„Ihr Buch über Österreich.”

„Sagt es Ihnen etwas?”

„Alles, was mich plagt, ist darin ausgesprochen.”

„Das ist erst der Anfang.” Der Professor wickelte den Turban ab. „Ziehen Sie die Rollos hoch. Ich bin lichtempfindlich. Ich habe mir in Syrien den Sonnenstich geholt. Auf dem Schreibtisch liegen die Fahnen meines neuen Buches, das geht einen Schritt über Österreich hinaus, es heißt .Menschheit’.” Ich zog die Rollos hoch und griff nach den Fahnen. Hanslik sah, daß ich die Uniform eines Oberleutnants trug.

„In dem Buche .Menschheit’, Herr Oberleutnant, wird die Lehre aus Österreich gezogen, aus dem Staat, der Ost und West vereint und der bis jetzt dem Rauschgift des Nationalismus zu widerstehen versucht hat. Nur von Wien aus kann man die Menschheit wollen. Nennen Sie das nicht Nabelbeschauung und provinziellen Lokalpatriotismus, ich stamme nicht aus Wien, sondern aus Schlesien, aus Biclitz. Ich habe gegen dieses Wien von heute, das sich vor dem Osten fürchtet, das sich kaum auf den Bisamberg wagt und ins Marchfeld nur geht, um sich zu besaufen, viel einzuwenden. Alle stellen sich blind und wollen nicht sehen, daß neben den Völkern im Mannesalter die jungen Völker des Ostens warten, ihr Wort sprechen zu können. Sie werden sagen: Herder! Mein lieber Herr Oberleutnant, wie es Herder gegangen ist, muß es jedem gehen, der im Osten Wärme und Glück empfunden hat. Kennen Sie unsern Osten? Waren Sie in der Slowakei? In Kroatien, Serbien? Bulgarien? Rumänien? Haben Sie dort die Bauern sonntags durch die Felder in ihren schönen Trachten zur Kirche gehen gesehen? Sind Sie über die Unvollkommenheit Österreichs unglücklich gewesen? Ja? Dann sind Sie mein Mann! Dann wissen Sie das Wichtigste: Daß ein Land, das solche Gegensätze versöhnen will, nie vollkommen sein kann, daß immer ein leichter Ärger zurückbleibt, den nur Liebe wegschmeicheln kann. Der Deutsche muß verzichten, nur ein Deutscher zu sein, der Ungar, der Kroate und der Slowake sollte erkennen, daß neben ihnen auch die andern die gleichen Rechte haben. Und weil keiner das Ganze haben kann, wird auch keiner durch Stolz und Übermut den anderen beleidigen und kränken.” Ich hörte die Türe knarren und drehte mich um, ein schmächtiger Mann war eingetreten, kam auf mich zu und stellte sich vor, ich verstand seinen Namen nicht. Hanslik fragte, als ich ihm gesagt hatte, ich sei gefangen gewesen, ob ich etwas von Rußland gesehen habe.

Man sehe aus dem Viehwagen und aus dem Spitalsfenster und durch den Stacheldraht nicht viel, aber man habe geahnt, wie weit und groß alles sei — zu groß und zu weit für uns.

j „Und die Russen selbst?”

„Der eine wollte, wie ich in der zerschossenen, erstürmten Batterie lag, mir mit dem Bajonett den Garaus machen, der andere schlug ein Kreuz über mich, kniete bei mir nieder, flößte mir Wasser, aus seiner Feldflasche ein und beklagte, daß ich so jung, so arm und so elend sei, zum Weinen!”

„So werden sie immer sein! Der eine wird nehmen und der nächste wird schenken. .Aber erzählen Sie weiter!” „Als sie mich zurückbrachten, sah ich sie vormarschieren. Alle unsere Regimenter, die ich gesehen hatte, die deutschen, die polnischen, die ungarischen und die tschechischen, kamen mir mit einmal müde und matt vor. Diese Russen marschierten nicht, sie quollen aus den Wäldern, sie sangen, sie lachten, sie scherzten und starrten uns wie fremde Tiere an. Das Hinterland schien schlechter als die Front. Dort wurde gestohlen, geschimpft, bespitzelt, die Ärzte beteten den Westen an und sagten, Rußland könne nur durch eine Revolution gerettet werden. Die Weite, die Größe, das Ursprüngliche wollten sie nicht sehen.” Hanslik lachte: „Wären Sie — nicht in der Gefangenschaft, sondern in der Freiheit — länger drüben geblieben, Sie wären uns verloren gegangen. Auf diese Weise haben wir das Deutschtum im Osten verloren. Die andern hatten mehr zu bieten an Weite und an Wärme.”

Da erhob sich der schmächtige Mann, dessen Namen ich nicht verstanden hatte, und hielt eine Rede, die ich nie vergessen werde. Er sprach stark brünnerisch — brinn’risch — wie er es aussprach. Man müsse das Deutschtum nicht verlorengeben, sagte er, im Gegenteil, es stehe ihm noch eine große Aufgabe bevor, nämlich die letzte, die dritte Lautverschiebung. Er werde eine Neu- und Umformung der deutschen Sprache eintreten aus der Begegnung zwischen Deutsch und Tschechisch, und diese Begegnung werde in Brünn ihre Früchte tragen, von Brünn werde die deutschslawische Zukunftssprache ausgehen, sie werde die Sprache aller Völker in Schwarzenbergs einst erträumtem Siebzig- Millionen-Reich sein, das ein Zweihundert-Millionen-Reich werde. Er berief sich auf den Ausspruch Stephans des Heiligen, des Königs von Ungarn, daß ein Reich, in dem nur eine Sprache gesprochen werde und in dem nur die gleichen Sitten herrschten, arm und lebensunfähig sei. Er sagte „B r i n n”, als trillere er auf einer Laute, aber die Saiten waren über sein Herz gespannt — ja, Brinn werde die Stadt der Erneuerung sein, von ihr werde wie von Prag unter den Luxemburgern, die neue deutsche, umfassende, allversöhnende, unüberwindliche und wohllautende, alle Härten vermeidende Sprache ausgehen und die Welt erobern. Er riet mir an, nach Brünn zu kommen, über den Krautmarkt zu gehen und den Spilez, den Spielberg, einst der Schrecken Österreichs, morgen seine Akropolis, zu besteigen, dann werde ich alles verstehen. Shakespeares Kraft komme aus der Mischung des angelsächsischen und des französischen Teiles her, und so werde aus der deutsch-tschechischen Mischung eben die neue deutsche Sprache hervorgehen, die in sich die Kräfte und die Schönheiten beider Sprachen vereinen werde. „Was die englische Sprache so stark gemacht hat, das wird auch der deutschen Sprache wohlbekommen. Und mich wird man einst als den Mann nennen und verehren, der dies als erster erkannt hat.”

Ich blickte zu Hanslik hinüber und wartete, was der zu dieser Lautverschiebung, die ja bei dem Sprecher schon zum Teil eingetreten war, zu sagen habe. Aber Hanslik hatte keine Lust zu einem Disput, und so entfernte ich mich bald darauf.

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