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Italien nach hundert Jahren

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Mailand, im Jänner 1948

Es er alte Doktor Cavezzali entstammt einer eingesessenen Mailänder Familie, die mit der Habsburgermonarchie gewissermaßen traditionsgemäß auf Kriegsfuß lebte. Einer seiner Vorfahren war „Kousin” gewesen, das heißt Mitglied jener antiösterreichischen Geheimbewegung der „Carbonari”, welche die Kohle, an der sich das heilige Feuer der Freiheit nährt, zu ihrem Symbol erwählt hatte. Ein anderer ‘ Cavezzali hatte am letzten der berühmten fünf Märztage an der Eroberung der Porta Tosa mitgewirkt und Radetzky persönlich abziehen gesehen. Der Doktor selbst hatte sich in seiner Jugend die Sache der Irredentisten mit glühender Begeisterung zu eigen gemacht und war den Österreichern an der Nordfront des ersten Weltkrieges gegenübergestanden. Sein Heim ist heute nicht nur wegen der Pflege ausgezeichneter Hausmusik bekannt, sondern auch dafür, daß es sich Einheimischen und Fremden gerne öffnet, die, einmal innerhalb des magischen Zirkels um den Kamin, ihre parteipolitischen Beziehungen vergessen und zu einer allgemeinmenschlichen Betrachtung der Dinge fähig werden und somit schlechthin als Vertreter der öffentlichen Meinung gelten dürfen.

Im Verlaufe eines Abends in jenem Mailänder Bürgerhaus kam die Meinung auf, daß die Journalistik es liebe, die historischen Ereignisse in eine auffällige zeitliche Abhängigkeit zu bringen, was den Artikelschreibern den Anfang, der bekanntlich das Schwerste ist, leichter mache. Beispiele? Der letzte König Italiens starb am gleichen Tage, als sein Land das erste republikanische Staatsoberhaupt erhielt, indem nämlich De Nicola die neue Verfassung Unterzeichnete, die ihrerseits wieder genau hundert Jahre nach der Gewährung des alber- tinischen Statuts in Kraft tritt. Und weiter: eben jetzt, da die Zeitungen die hundertste Wiederkehr der Tage der Erhebung gegen die österreichische Herrschaft zu feiern haben, bietet ein Dokumcntenfund dem „Corriere della Sera” einen Anlaß von willkommener Aktualität. In einem alten Gebäude in Mantua, einst Wohnung des politischen Agitators Don Enrico Tazzoli, der dann 1852 von den Österreichern justi- fiziert wurde, fand sich ein Schriftenbündel aus dem Jahre 1848, darunter die Klageschrift Massimo d’Azeglios „Lutti di Lombardia” über die österreichische Gendarmerie in den ersten Jännertagen jenes Jahres, deren Aktualität das Blatt im Titel besonders hervorhebt.

Die Bemerkung erregte den Widerspruch des Hausherrn. „Der Dokumentenfund”, so sagte er, „mag für den ,Corriere ein willkommener Anlaß gewesen sein, aber die Aktualität ist eine rein äußerliche — mi scusi — journalistische, ohne innere Be-Ziehung zur Gegenwart. Ida bezweifle, daß der Inhalt solcher Artikel von der Leserschaft noch ,gefühlt wird wie früher einmal, abgesehen natürlich von dem rein historischen Interesse. Das Jahr 1948 wird an den Erinnerungen des Jahres 1848 ohne tiefere Bewegung vorübergehen. Gewiß wird irgendein Minister auf der Piazza ,Cinque Giornate eine Rede halten und mit den feurigen Worten eines Mazzini oder Cavour neu begeistern. Zweifellos wird an dem düsteren Denkmal mit seiner ganzen Menagerie von sich erhebenden Löwen, Adlern mit ausgebreiteten Schwingen und Schlangenbrut ein Kranz niedergelegt wer den. Die Stadt Mailand hat auch eine Ausstellung vorbereitet, aber das unauffällige Werbeplakat selbst mit seiner unpersönlichen allegorischen Figur einer Italia rückt den Anlaß aus der Gegenwart in die Historie. Die literarische Produktion hat sich mit ihm überhaupt nicht eingelassen, mit Ausnahme eines einzigen bescheidenen Buches, das, dem Umschlag nach zu schließen, für die Schuljugend bestimmt ist, haben die Verleger von dem immerhin denkwürdigen Ereignis keine Notiz genommen. Dies alles mag dem Österreicher, der an ihm zwar auch beteiligt ist, es aber innerlich längst überwunden hat, als selbstverständlich erscheinen. Für uns Italiener ist es etwas ganz Neues, fast Unerklärliches, denn das Risorgimento, der Beginn unserer nationalen Existenz und unseres Selbstbewußtseins, liegt erst hundert Jahre zurück und war in uns allen noch bis zum Beginn des letzten Krieges Wirklichkeit und lebendige Gegenwart. Das Lied von 1848 war zu den Zeiten Radetzkys ein Schlachtgesang, 1915 war es ein Hymnus und heute ist es ein Poem, das wir mit nicht größerer innerer Anteilnahme lesen als vielleicht die Spanier das Epos vom Cid und der Vertreibung der Mauren.

Da die Ereignisse von 1848 bereits längst historisch fixiert sind, muß die Veränderung in uns selbst vor sich gegangen sein. Zunächst aber haben sich die Größenverhältnisse geändert. Die Jugend, die heute die Geschichte des Risorgimento studiert, erfährt mit Belustigung, daß die Mailänder Bürger mit Raucherstreik agitierten oder das Gastspiel der Fanny Eißler in der Scala boykottierten. Und im Zeitalter der Vernichtungslager scheint ihnen Radetzky, der in der patriotischen Literatur allgemein als ,boia’, Henker, bezeichnet wird, mit dem runden Dutzend Todesurteile, die er ausgesprochen hat, ein sehr harmloser Mann gewesen zu sein. Und warum, so fragen sich die Jungen erstaunt, haben ihn die komischen Carbonari wenn sie es gar so arg empfanden, statt satirische Gedichte zirkulieren zu lassen, nicht einfach mitsamt seinem Regierungspalast in die Luft fliegen lassen? Die iganze Erhebung von 1348 erscheint ihnen nicht des Aufhebens wert, weil die Zahl der Todesopfer geringer war als die einer einzigen Bombardierung unserer Stadt in den letzten Jahren.

Ferner hat die Jugend bemerkt, daß in der Geschichte die kühnsten Theorien den Charakter eines Provisoriums haben. Der Liberalismus war 1848 revolutionär und gilt heute als reaktionär. Wir haben an eine bessere Welt geglaubt und die Jugend hat indessen bemerkt, daß die Welt schlechter geworden ist. Sie hat Faschismus, Krieg, Revolutionen und Krisen erlebt und sich daran gewöhnt, mit Ergebung alles über sich ergehen zu lassen, weil eben alles vorübergeht.

Aber auch wir, die ältere Generation, die mit Wehmut merkt, daß das Lied von 1848 nicht mehr so klingt wie einst und zur Literatur geworden ist, haben eine Feststellung machen können: wenn die Geschichte des Risorgimento heute irgendwie blutleer wirkt, so rührt dies davon her, daß Ideen nur solange wirkliches Leben haben, als deren Antithese lebendig ist. Nun wird die Idee des Risorgimento heute von niemandem mehr angefochten. Das neue Österreich ist unter den jungen Republiken, die der katastrophische Krieg auf dem aufgewühlten Boden des europäischen Mittelosts zurückgelassen hat, die einzige und letzte, welche mit der westlichen Welt verbunden blieb und unsere eigenen Sorgen und Schicksale teilt.

Um auf den eingangs erwähnten Artikel des ,Corriere della Sera” zurückzukommen, dessen .innere” Aktualität ich bestritten habe: das gleiche Blatt bringt einen Leitartikel von Ivanoe Bonomi, dessen politische Autorität keines aktuellen Anlasses bedarf und dessen Worte dennoch ungleich zeitentsprechender und von uns ,gefühlter” sind als jene historischen Reminiszenzen. Er betrachtet Österreich fast als einen Wachtposten unserer lateinischen Kultur. Es hat mit uns gemeinsame Probleme und Aspirationen, die gemeinsame Aktionen und einträchtige Werke bestimmen könnten. Italien und Österreich, schreibt er, sind beide Marken der westlichen Welt geworden und liegen beide in einer Zone, wo gefährliche Reibungen möglich sind, zwei Pfeiler, an denen sich der Frieden verankern kann.

Hätten wir Italiener das, was Bonomi sagt, bereits zwischen den beiden Kriegen erkannt, so wäre das Risorgimento schon damals Historie geworden und manches Leid wäre uns vielleicht erspart geblieben. Daß wir dies heute erkennen, ist die einzige Aktualität des Zentenars von 1848.”“

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