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Nachdenkliche Komodie

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Das Volkstheater setzt sein lobenswertes Bemühen um das österreichische Vojksstück mit der Neuaufführung des „Kamp 1“ von N e s t r o y fort. „Kampl oder das Mädchen mit Millionen und die Nähterin“ bringt mit den 41 Personen dieses Stückes ganz Alt-Wien auf die Beine — nicht jedoch, wie man vielleicht vermuten möchte, zu einer biedermeierlich-romantischen Schau, sondern — und dies ist das Uberraschende — zu einer in ihrer Weise einzigartigen kritischen Gesamtdarstellung der Wiener „Gesellschaft“ vor hundert Jahren! Was hat Nestroy *iw Eugen Sues Roman „L'orgueil“ gemacht! Es ist nicht einfach die Mär von der glücklichen Vermählung zweier junger Aristokratinnen, zweier Schwestern, die, durch seltsame Wechselfälle getrennt, in völlig verschiedenem Milieu aufwachsen, die eine als reichste Erbin des Landes, die. andere als Tochter eines Schlossers, die durch Näharbeiten Geld zum „Zusetzen“ daheim verdienen muß — es ist auch nicht nur ein bunter Reigen bunter „Rollen“: streberischer junger Herren, spekulierender und ränkesüchtiger Barone und Baronessen, lebenstoller, kauziger „Volkstypen“, sondern weit mehr, ein Schaustück Wiener gesellschaftlichen Lebens, gesehen durch die scharfe Brille eines Mannes, dessen bitter-zersetzender Geist in spitzen geprägten Sätzen mit einem eigenen Herzen um ein Verstehen der Gegensätze ringt, welche damals niederes „Volk“, Bürgertum und Adel vielfältig trennte — und zugleich verband! Verband, nicht nur, weil, wie eh und j, „die kleine Welt“, die „große“ kopiert und imitiert, in Mode und Maske der Kleider, Gefühlen und Gedanken —, sondern weil ein direkter und gerader Weg von der einen in die andere Welt führt. Der Weg eines starken und reinen schlichten Menschentums! Baron Ludwig von Auenheim darf deshalb der Freund Wilhelms, des Kanzleidienersohns^ sein, und Netti, die „Nähterin“, heiraten, Pauline Baronesse von Kellburg, „das Mädchen mit Millionen“, bekommt obgenannten Wilhelm als Eheherrn ...

Erfahrung und Wissen um den Weg eines Jahrhundert warnen uns, Nestroy zu verharmlosen. Dieser große Wiener Volksdichter ist keine männliche Courths-Mahler, die leichten Herzens in einer brüchigen Welt für die Massen, welche sich nach dem kleinen und großen Glück sehnen, schockweise Happy-ends aus der Kiste spielerischer Traumstücke holt, sondern ein Mann, der schwer mit Geist und Wesen seiner Zeit und seines eigenen Charakters ringt, um deren Schwernis und Dunkelheit den lichten warmen Tropfen der Bejahung und echten Freude abzupressen. Es ist eine harte Kelter, in der Nestroy den Wein seines Lachens gewinnt: Uber sie gebeugt, gewinnt der notreife Mann die Ein-Sicht in Tiefe und Untiefe des Wiener Herzens. So aber wird sein Spiel zur echten Komödie, zum wahren „Volksstück“, zum Singen und Sagen von Hoffnung, Freude und geheimer, meist schamhaft verschwiegener Enttäuschung und Täuschung des „gemeinen Mannes“ ...

Im Akademietheat^r geht Roger-Ferdinands Lustspiel „M i t achtzehn Jahren“ einer vermutlich langen Kette von Aufführungen entgegen. Ein verdienter Erfolg, der dennoch einige Bemerkungen erfordert, da, wie Anzeichen zeigen, zu befürchten ist, daß diese Komödie von den Angehörigen der älteren Generation zu wenig ernst genommen und von den Angehörigen der jungen Generation au wenig gesehen wird! „Mit achtzehn Jahren'“ ist nicht nur ein Lustspiel mit einer Bombenrolle: ein Wechsel amüsanter Szenerien um eine 27jährige Philosophieprofessorin, welche in einem Gymnasium der Normandie eine Klasse von Rowdies-Abiturienten zur „Besserung“ übernimmt — junge Burschen, welche vom Schleichhandel leben, in erbitterndem permanentem Aufstand gegen ihre Väter und Lehrer, von denen sie ein Abgrund trennt — zumindest zu trennen scheint. Ein Thema also, welches nicht nur Stoff für ein französisches Lustspiel, sondern für viele europäische Tragödien der Gegenwart und der unmittelbaren Vergangenheit liefert, behandelt es doch die verhängnisvolle Kluft zwischen alter und junger Generation in der Krisis unseres Zeitalters, ein Thema, welches letzthin eines der schwierigsten Probleme unserer „Kultur“ beinhaltet: die Erziehung eines neuen Menschen, eines neuen Menschentyps, der gehärtet ist in der Not unserer Zeit, der rein und reif wird gerade in der täglichen Erfahrung und Auseinandersetzung mit Korruption, Lüge und Gemeinheit der „Welt“. Wenn der Autor dieses Sujet leicht, flüssig und sehr amüsant behandelt, so ist damit noch nicht gesagt, daß er dies leichtsinnig und leichtfertig tut: im Gegenteil, er weiß genau, worauf es heute ankommt: auf den vollen Einsatz der Persönlichkeit des Lehrers, Erziehers, des Professors — ein Wort, das zu deutsch „Bekenner“ bedeutet. Und wahrlich, hat nicht das Schicksal unserer jungen studentischen Generation in erschütternder Weise aufgezeigt, daß diese Jungen nur getai beziehungsweise, nicht getan haben, was ihre Professoren in Wort, Rede, Lehre, Leben bekannt, beziehungsweise nicht bekannt haben? Was aber werden diese Jungen morgen tun, da ihre Lehrer heute kein Bekenntnis wagen? In Roger-Ferdinands Lustspiel ist das Bekenntnis der jungen Professorin klar und eindeutig: es ist ein Bekenntnis zu geistiger Disziplinierthei.tj zu Vernunft und Herz als Maß und Mitte menschlichen Seins — vorgetragen aber nicht als Moralpauke, sondern im lebendigen Bekenntnis zu dieser bös-verrufenen jungen Generation selbst. Die junge Professorin stellt sich ganz auf die Seite ihrer Schüler, sie gewinnt zuerst deren Herz, dann deren Geist zur „Mitarbeit“.“Erziehung durch Liebe, Klugheit, geis'tige r.rtQhe1plgnh€kl-gKn FinSatr^einer gafnZen Persönlichkeit: Sollte dies wirklich nur ein Thema für ein zweistündiges Lustspiel sein?

So lebendig uns Nestroys Kritik an der Wiener Gesellschaft vor hundert Jahren anspricht, so erfrischend uns Roger-Ferdinands Kontrastierung einer Jungen und alten Generation im Frankreich der Gegenwart anmutet, so peinlich-fade erscheint uns die Gesellschaftskritik Galsworthys in,seinem Schauspiel „S e n s a t i o n“, welches die Insel neu herausgebracht hat. Eine sehr langatmige, völlig undramatische Anklage wider eine englische Institution, die uns zu fremd ist, um interessant zu erscheinen, und zu unnatürlich, um unsere Teilnahme erwecken zu können. Galsworthy kämpft gegen die gesetzlich obligate Totenschau: Ein ehedem berühmter Kriegsheld, der seine Lorbeeren im Weltkriege Nummer eins erwarb, hat Selbstmord verübt —, und nun rollt die Totenschaukommission das Privatleben sämtlicher „Hinterbliebenen“ auf: die Liebschaften des Verstorbenen, beziehungsweise seiner Gattin, das erbitterte Ringen seiner Mutter und seines Schwiegervaters um den Ruf des toten Mannes und der lebenden Frau. Minutiös, mit der Pedanterie schlechter Stillebenstaffagen werden Personen und Gesten zusammengestellt — und ergeben doch kein lebendig' Bild. Schade um die Schauspieler, welche sich redlich bemühen, dem toten Ding Blut, Wärme, Leben einzuhauchen. Die Insel, deren Anliegen es ist, Dramen der Weltliteratur dem Wiener Publikum in sauber gearbeiteten .Aufführungen näher zu bringan, hat diesmal keinen glücklichen Griff getan; sie hat nun in diesen Tagen eine Vorschau auf das Programm der kommenden Spielzeit gegeben. Wir wünschen ihr Erfolg zu seiner Durchführung — ohne „Sensation“, und auch ohne Sensationen kann ein tapfer kämpfendes kleines Theater eine bedeutende Aufgabe im großen kulturellen Leerraum der Gegenwart erfüllen — wenn es die richtigen Autoren und die rechten Stücke zu wählen weiß.

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