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Nichts Neues über Churchill

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Es war vor rund drei Jahren, daß ich in Salzburg ich glaube in der Gesellschaft Lernet-Holenias, di Gattin Peter de Mendelssohns traf, der wir eine de reizvollsten Untersuchungen über die moderne eng lische Literatur verdanken, die sie unter dem Namei Hilde Spiel veröffentlicht hat. Von ihr erfuhr ich daß ihr Mann eben mit fieberhafter Eile (die siel am Ende großer Arbeiten auch dann einstellen würde wenn wir mit ihnen schon nach der Geburt be ginnen könnten) das letzte Kapitel eines Buches übe Winston Churchill gestalte. Diese Mitteilung be stürzte mich, wußte ich doch, daß der Verlag Kur Desch das bedeutende Buch der amerikanischen Jour nalistin Virginia Cowies über Churchill erworber hatte, daß Liebersetzung und Bearbeitung abgeschlos sen, ja daß just in diesem Augenblick mit der Auslieferung des Werkes zu rechnen war. Eine unglücklichere Gleichzeitigkeit von Gedanken und Ausführung war kaum denkbar!

Jene drängende Eile der letzten Kapitel hat sich, wohl nach langen Gesprächen zwischen Autor und Verlag, nach manchem Erwägen und Abwägen, in die Ruhe ganzer drei Jahre verwandelt. Nun liegt, schön ausgestattet und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, Band I der Studie über den großen Marlborough-Sprößling vor uns.

Peter de Mendelssohn nimmt unter den deutschen Autoren, die im Ausland wirken, eine Sonderstellung ein. Wie bei keinem anderen verbinden sich in ihm eine glückliche Anmut des Ausdrucks mit Kühnheit, Kraft und — gesundem Menschenverstand. Er ist ungewöhnlich und auf undeutsche Art brillant, polemisch, ohne gehässig, und graziös, ohne verspielt zu sein, wobei er es fertigbringt, diese Eigenschaften bei allem, was er schreibt, ob das Thema nun die Prozesse von Nürnberg, Jüngers „Strahlungen” oder Winston Churchill ist, durchschimmern zu lassen. Ich kann nicht umhin, bei der Lektüre seiner Arbeiten immer von dem Gefühl überkommen zu werden, daß es ein großes Vergnügen sein müßte, diesen Mann in ein Streitgespräch zu verwickeln oder von ihm verwickelt zu werden; leider ergab sich bisher nie die Gemeinsamkeit eines Punktes, über den man aufs heftigste hätte verschiedener Meinung sein können.

Indes ist die Aufgabe des Kritikers ihrem Wesen nach stets ein wenig grausam, und so gilt es auch in diesem Fall nicht so sehr, sich mit den Qualitäten des Verfassers auseinanderzusetzen, als zunächst einmal ganz nüchtern zu untersuchen, ob es wirklich gerechtfertigt war. innerhalb so kurzer Zeit noch ein zweites Buch über Churchill auf den Markt zu bringen. Stand Mendelssohn mehr und neues Material zur Verfügung? Ist seine Aussage umfassender und von größerer Tiefe? Wird schließlich und endlich die abgeschlossene Arbeit, zumindest für den deutschen Raum, das Standardwerk über Churchill sein, das in Zukunft weder entscheidend ergänzt noch an Eindringlichkeit übertroffen werden kann?

Wir wollen es hübsch der Reihe nach machen und uns zunächst einmal mit der Materialfrage befassen. Als Virginia Cowies zu Churchill kam, den sie von den Kriegstagen her kannte, und von ihrem Vorhaben sprach, warnte sie der große Engländer, daß sie kaum imstande sein würde, neues Material zu erschließen. Wieder und wieder ist dieser Acker umgegraben und gepflügt worden, nichts unwahrscheinlicher, als gerade hier einen Topf mit seltenen Münzen zu entdecken. Diese Voraussage hat sich im großen und ganzen bewahrheitet, weder Virginia Cowies noch auch Mendelssohn haben Neuland der Forschung betreten. Der Unterschied ist vielleicht der, daß Mendelssohns Blick noch schärfer, seine Beobachtung noch präziser ist; es entgeht ihm weder, daß Winston Churchill ein Sechzehntel Indianerblut in seinen Adern hat (hätten die Rothäute die lästige Gewohnheit mancher Europäer, große Männer für sich zu beanspruchen, wir würden bald von dem „bedeutenden Indianer Winston Churchill” hören) noch daß Attlee von einer Gouvernante erzogen wurde, die der kleine Winston aus dem Haus geekelt hatte; sein Sinn fürs Merkwürdige ist aufs äußerste gesteigert. Trotzdem gerät auch er in Engpässe, die eben ganz einfach nicht zu umgehen sind. Ueber die Zeit der Zusammenarbeit zwischen Churchill und Lloyd George gibt es beispielsweise eine Reihe von Quellen, aber nur ein Zeugnis aus großer und vertrauter Nähe; die Tagebücher und Briefe der amüsanten Lucy Masterman, der Gattin eines liberalen Politikers. In ihnen sind wieder gewisse Stellen so kennzeichnend, daß man sie dem Leser einfach nicht vorenthalten kann. Mendelssohn und Virginia Cowies zitieren also sehr ähnlich, Mendelssohn allerdings meist ausführlicher, was indes nicht weiter verwunderlich ist, da sein erster Band mit 400 Seiten nur bis zum Jahr 1914 vordringt, während die Amerikanerin auf 430 Seiten eine Gesamtdarstellung versucht, was allerdings auf Kosten der letzten Jahrzehnte geschieht, ein Manko,. auf das wir hier hinweisen wollen, da es ansonst in der Gegenüberstellung nirgends einen rechten Platz zu finden scheint.

Wie aber steht es mit der Interpretation? Sie ist in der Tat nicht nur breiter geraten, sondern hat auch mehr Tiefgang. Bereits bei der Durchleuchtung

, des einzigen Romans, der Churchills Feder zu ver- : danken ist, diesem unruhig, grob gezeichneten, aber keinesfalls talentlosen „Savrola”, steigt er in Schluchten ab, die der Amerikanerin verborgen geblieben. Von der großen Studie, die Winston über seinen Vater Randolph Churchill schrieb, weiß Virginia Cowies nur zu sagen, „sie sei schön geschrieben und geschickt zusammengestellt, bringe die Tagesfragen klar zum Ausdruck und zeige das Unterhaus als den .besten Klub der Welt’ “. Der Rest wird einer zeitgenössischen kritischen Stimme überlassen. Mendelssohn aber setzt sich ernsthaft mit dem Werk auseinander. Schon die einleitenden Worte verraten eine ganz andere Perspektive. „Gewiß, es mangelte ,Lord Randolph Churchill’ noch die überragende sprachliche Meisterschaft, der große, barocke Schwung, der das .Leben Marlborough’ der Architektur von Blenheim so kongenial macht. Die Biographie des Vaters glitzert und leuchtet nicht, sie hat wenig persönlichen Charme und gar keinen Humor. Man vermißt in ihr noch die liebevolle stilistische Kleinarbeit, die ziselierte Ironie des Satzgefüges, die humorige Feinmechanik des uhrwerkartigen Wortgetriebes, die raffinierte Verteilung von Licht, Schatten und Helldunkel, die an dem späteren Meisterwerk entzücken.” Vom Stilkritischen her gelangt Mendelssohn dann mit unfehlbarer Sicherheit zu den thematischen Hauptpunkten. In diesem Fall zu der Frage: Warum mußte Churchill die Lebensgeschichte seines Vaters erzählen? Was bedeutete dieses Ereignis in seiner eigenen Existenz und wohin führte es? Diese Hauptpunkte aber schweben ihm dauernd vor, er verliert sie nie ganz aus dem Auge, kann immer zu ihnen zurückkehren. Die eigene Persönlichkeit (und das kann Mendelssohn gar nicht leicht gefallen sein) tritt dabei zurück, nur dann und wann streut er eine Bemerkung ein, die sich wie der Mörtel zwischen die Ziegel legt, „Es ist eine Merkwürdigkeit unserer Zeit”, schreibt er irgendwo, „daß sie mit zunehmender Brutalisierung ihrer Lebensformen zugleich immer empfindlicher und zimperlicher wird.” Knapper geht’s nimmer. Manchmal aber wird die Darstellung auch von einer besonderen Art von Schizophrenie grundiert, die zugleich vornehm und traurig wirkt. In einem Teil seines Wesens neigt nämlich Mendelssohn der Labour-Partei zu, und dieser Teil seines Wesens fühlt sich in der Bewunderung für Churchill gar nicht recht wohl. Dann und wann unterbricht er den Fluß der Erzählung, sagt unvermittelt: „Und wissen Sie, wer dieser stille, feine Herr da hinten ist? Clement Attlee ist’s und niemand anderer»... und ich möchte Ihnen eigentlich viel lieber von Clement Attlee erzählen ...”, aber dann tut sich immer so viel auf der Churchillsehen Bühne, daß er nie dazukommt.

Die Verknüpfung unserer beiden Beobachtungen, daß erstens kaum neues Material erschlossen wurde und daß zweitens die Interpretation die nötige Tiefe aufweist, müßte uns eigentlich zur Ansicht führen, daß wir es hier nun doch mit dem Standardwerk zu tun haben, wenigstens im deutschen Raum. Denn es wurde ja nur deshalb kein neues Material verwendet, weil eben das meiste schon publiziert worden ist. Dem mag auch so sein. Freilich kann es in England noch Männer geben, die auch zu diesem Thema Neues zu sagen haben. Es ist beispielsweise der heimliche Ehrgeiz Randolph Churchills, des nicht mehr umstrittenen alten Mannes umstrittener Sohn, die große Biographie seines Vaters zu schreiben. Dann gäbe es das Buch Winston Churchills über Randolph den Aelteren, und ein Buch Randolph Churchills des Jüngeren über Winston Churchill, und man könnte ein Wiener Scherzwort dahingehend variieren, daß Geschichtsschreibung das ist, was ein Churchill über den anderen schreibt.

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