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PASSIONSSPIELE IN ÖSTERREICH

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Es ist eine Grundtatsache im Leben des Menschen, daß er sich überall und seit jeher gedrängt fühlt, seinen Vorstellungen ein Gesicht zu geben — etwas zu gestalten, was durch das Sehen erfaßbar ist — und seinen Gemütsbewegungen Ausdruck zu verleihen. In die Passion des Menschensohnes fühlen sich alle, die an Ihn glauben, mit ihrem eigenen Leid, dem keine Kreatur entrinnen kann, hineingenommen, durch Sein Evangelium getröstet und über sich selbst erhöht. Weil hier das persönliche Erleben des Einzelnen an der Wurzel gepackt wird und die Hoffnung auf Erlösung allen leuchtet, deren Glaube stark genug ist, sich aus dem „Tal der Tränen“ zu erheben, konnte die Menschheit, der es gegeben ist, „zu sagen“, was sie leidet, was sie zutiefst bewegt und was ihr Freude schenkt, ihrerseits zum Schöpfer werden, der ein „Bild“ seines Wesens zu schaffen vermag. In der Heilsgeschichte lebt die Menschheit selbst — aber lebt dieses Bewußtsein auch noch in einem Zeitalter der Mechanisierung und Entseelung, in einem Chaos der Umwertung aller Werte, das einer noch nie dagewesenen geistigen Auflösung gleichkommt? Gegen eine solche regen sich Gegenkräfte.

Es scheint, daß die Sehnsucht sich bahnbricht, „zu den Müt- tern“ hinab zu steigen, um aus den Quellen des Seins zu schöpfen und so Klarheit und Kraft zu gewinnen, Unabandęr- ; liches zu trägen und Menschenwürde zu bewahren. So ist es zu erklären, daß wieder Passionsspiele aufgeführt werden, welche, ebenso wie die Krippenspiele, zum Grundstock des geistlichen Theaters des Mittelalters gehört haben, welches erst in seiner Spätzeit um Themenkreise aus dem Leben der Heiligen und Märtyrer erweitert und, besonders in den romanischen Ländern, zu einer Blütezeit groß aufgemachter und prunkvoll inszenierter Kolossalaufführungen ausgestaltet wurde. Dort ist diese Tradition auch in den unruhigen und umstürzenden Zeiten des 18. und 19. Jahrhunderts wohl stark eingeschränkt, aber niemals ganz unterbrochen worden.

Im deutschsprachigen Raum war ein verhängnisvoller Riß entstanden durch Reformation, Aufklärung und durch die im Zuge des Josefinums bewirkte Säkularisierung war auch der Grund zum Verfall und zur schließlichen Zerstörung kostbarster Kunst- und Kulturgüter gelegt worden. Die Religionskriege, die Bauern- und besonders die Türkenkriege haben das ihre dazu beigetragen, dem Antlitz Mitteleuropas tiefe und oft unheilbare Wunden zuzufügen. Wenn heute Österreich, das auf eine bis ins Hochmittelalter zurückreichende Tradition der Passionsspiele zurückblickt, diese in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wieder aufgenommen hat, so geschah dies im engen Anschluß an die Texte der Evangelien und des Offiziums, welche den darzustellenden Szenen entsprechend zusammengestellt werden.

Auf das Jahr 1613 gehen die bekannten und mit Recht gerühmten Passionsspiele von Erl in Tirol zurück, welche auf Grund eines Gelübdes begründet wurden und im Jahre 1963 ihre 350-Jahr-Feier erlebten. Das alte Spielhaus wurde bald zu klein, um die zahlreichen Besucher, die von Mal zu Mal um Beträchtliches mehr wurden, zu fassen und so wurde ein neues Haus gebaut, Welches im Jahr 1959 seine erste Aufführung erlebte. Die höchsten Leistungen des Dorfes und die höchste Anzahl der Besucher erlebte Erl im Jubiläumsjahr 1963: es kamen mehr als hunderttausend Besucher.

Auch in Wien gibt es eine Passionsspielgruppe, deren Bedeutung nicht zu übersehen ist und die durch das außerordentlich verständnisvolle Entgegenkommen und die tatkräftige Unterstützung des Pfarrers von St. Severin in der Kreuzgasse einen geradezu idealen Aufführungsraum in der stimmungsvollen, in geschmackvoll gestalteten gotisierenden Formen erbauten Pfarrkirche gefunden haben. Seit drei Jahren stellt sich die Katholische Jugend von St. Severin in Wien-Währing die Aufgabe, während der Fastenzeit eine Folge von Abschnitten aus der Leidensgeschichte des Herrn zu spielen, welche, jedes Jahr in einer neuen Fassung, zu einem Passionsspiel ausgebaut wurde. Schauplatz desselben ist, wie gesagt, der Kirchenraum; so war es zumeist auch in den ersten Phasen des Mittelalters, bis dieser sich als zu klein erwies, um die ständig wachsende Menge derer zu fassen, die mitfeiern, mithören und auch mitschauen wollten. Aus dem Vollzug der Liturgie im Sakralraum, war allmäh-

lieh eine Volksliturgie entstanden, ein Volksbrauch, der sich zunächst im freien Raum vor der Kirche entwickelte, um alsbald auch dort nicht stehen zu bleiben, sondern in eine Wanderung durch die Stadt oder auch durch die Landschaft überzugehen. Eine solche Verbindung von einer sich bewegenden Prozession finden wir in der großen Dramatischen Prozession des umbrischen Gualdo Tadino und im kalabrischen Laino Borgo.

Diesen Typus repräsentiert auch das Passionsspiel von St. Margarethen im Burgenland. Das Mitgehen in der Landschaft bewirkt sicher ein besonders vertieftes Miterleben, das dem bloßen Zuschauer wohl selten in solcher Intensität beschieden ist; anderseits mag es sein, daß die Mühe und Plage einer langen und oft beschwerlichen Wanderung, wie sie zum Beispiel in Laino Borgo der Fall ist, wo die Passionsprozession fast einen ganzen Tag lang dauert, oder auch die Unbilden des Wetters so viel Kraft und Gestimmtheit der Mitwanderer aufzehren, daß von einem Mitfeiern nur spärlich die Rede sein kann. Die Ruhe und Geschlossenheit eines Innenraumes, besonders wenn dieser so stimmungsvoll wie die genannte St.-Severins-Kirche ist, bewirkt durch die

Verbindung der räumlichen Konzentration des dramatischen Geschehens mit einer ausgezeichneten Lichtführung, im Zuschauerraum eine besondere Aufnahmebereitschaft, die nicht gestört wird. Die einzelnen Szenen werden an verschiedenen Punkten des Haupt- und der Seitenschiffe verlegt; sie tauchen, scharf beleuchtet, aus tiefem Dunkel auf, um darin wieder zu verschwinden und sind von packendster Wirkung. Dem statischen Prinzip des Entwickelns einer dramatischen Aktion auf einem bestimmten Platz gesellt sich hier das Element der Bewegung im Raum: das „pro-cedere“, das Voranschreiten der römischen Legionäre, welche den kreuztragenden Heiland zur Richtstätte schleppen und stoßen, hinterher die Prozession der begleitenden Bevölkerung, welche durch den dreimaligen Fall und die Begegnung mit Maria, den Frauen Jerusalems, Veronika und dem zu Hilfe gerufenen Simon von Cyrene immer wieder aufgehalten wird. Dieser Kreuzweg führt hier durch das lange, allein von den Fackeln der Legionäre erhellte Hauptschiff der Kirche in den Chor, wo mit der Aufrichtung des Kreuzes der Schlußpunkt einer unwiderstehlich ergreifenden, mit geradezu erstaunlich sicherem künstlerischen Instinkt und Können gestalteten Aufführung gesetzt wird. Aufrichtiger Dank gebührt den Initiatoren und den mit echter Begeisterung und großem Geschick agierenden Darstellern, die keine Mühe und kein Opfer gescheut haben, um die „Passio Domini“ zu einem tiefbeeindruckenden Erlebnis werden zu lassen.

Auch die Bewohner von Kirchschlag in der Buckligen Welt haben keine Mühe, kein Opfer und keine Plage gescheut, um in schwerer Zeit die Leidensgeschichte des Herrn sich selbst und ihren Landsleuten vor Augen zu führen — zum Trost, zur Erhebung aus den eigenen Leiden und Schwierigkeiten ihres persönlichen Lebens, das in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg wahrhaft kein leichtes war, und in der Hoffnung auf eine sichere Erlösung; dieser eine überzeugende und würdige Gestaltung zu verleihen, war ihr besonderes Herzensanliegen. Und es gelang, im Jahre 1932 konnte in einem damals noch kleinen Spielhaus das Passionsspiel aufgeführt, im Jahre 1933 und 1935 wiederholt werden; die kriegsbedingte Unterbrechung der Spielzeit fand erst im Jahre 1950 ein Ende. Mit Freude und Begeisterung wurde sie wieder aufgenommen, und jetzt wurde es klar, daß die Unterbringung so großer Besucherscharen in Zukunft nur in einem neuen, viel größeren Haus zu ermöglichen sei; dieses konnte errichtet und am 1. Mai 1959 eingeweiht werden. Unter der Ägide des seit 1962 amtierenden Pfarrers, der mit Begeisterung, tiefem Verständnis und großem Können das von seinen Vorgängern begonnene Werk der Passionsspielaufführungen fortsetzt, können diese jetzt mit einem Stab von 350 freiwillig und gänzlich kostenlos Mitwirkenden ein halbes Jahr lang jeden Sonn- und Feiertag stattfinden. Manche Szenen, wie zum Beispiel die „Marienklage“, werden mit erschütternder Innigkeit, andere als meisterhaft bewegte Massenszenen gebracht, während die Gerichtsszene, wie von besten Berufsschauspielem dargestellt, geradezu grandios ist. So spielen sie, herausgehoben aus der eigenen, beschränkten und oft mit viel Plage und Leid erfüllten Lebenssphäre, hineinwachsend in das alles durchdringende, alle und alles überhöhend verklärende Mysterium von Leid, Tod und Auferstehung. Gratias agimus vobis!

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