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Perspektive von unten

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DIE HORNISSEN. Von Peter Handke, Suhrkamp, 1966. 27 Selten. DM 16.80.

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DIE HORNISSEN. Von Peter Handke, Suhrkamp, 1966. 27 Selten. DM 16.80.

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Nicht selten kann man Stimmen hören, die meinen, daß in einer Zeit, deren Zeichen auf eine ungeheure Umwälzung der gesellschaftlichen, politischen und geistigen Vorgänge deuten, sich auch die künstlerischen Ausdrucksformen grundlegend wandeln müßten. Die nicht zuletzt durch die Mechanisierung der Lebensvorgänge veränderte Welt, in deren Zug Entmythisierung, rein sachbezogenes Wertempfinden, Vertrauen auf die Manipulierbarkeit einer nur noch funktionell erfaßten Wirklichkeit neue Denkformen prägen, fordere den Künstler zur Konfrontation auf.

Dieses Streben nach Erneuerung betrifft unter den literarischen Gattungen in erster Linie den Roman und das Gedicht. In beiden Fällen hat sich das „Neue“ bis jetzt hauptsächlich in der Ablehnung des „Alten“ manifestiert, was den Roman betrifft, in der Ablehnung eines auf die bloße Fabel die Geschichte reduzierten Prosastückes, dessen Informationswert dem modernen Menschen gemessen an einem logisch sachlichen Bericht oder einer wissenschaftlichen Abhandlung unbedeutend erscheint, was das Gedicht betrifft, in der Ablehnung des „Rührseligen“ und aller bis zum Expressionismus damit verbundenen Strömungen.

Wie aber der „neue Roman“ aus- sehen soll, dies, darüber sind sich die Theoretiker einig, könne nur der entscheiden, der ihn schreibt.

Es gibt Leute, die meinen, Peter Handke hätte ihn geschrieben.

Der Roman „Die Hornissen“ ist das erste größere Werk des jungen wehrt, zu schauen vermag, dort wo andere nur sehen. Dey Erblindete der Hornissen jedoch verfügt nicht über die Fähigkeit der Voraussicht, der Deutung der Zukünftigen, wie der griechische Mantes, vielmehr ist seine Blindheit, jene Leere völliger Eindruckslosikeit, der Ausgangspunkt für das Ertasten der Wirklichkeit, die längst nicht mehr Tatsache, Gegebenheit, sondern bestenfalls eine Möglichkeit oder besser gesagt eine Spielform vieler Möglichkeiten sein kann, die nicht wahr zu sein braucht, sondern nur vorstellbar deren Glaubwürdigkeit — dies ist die Grenze — einzig und allein aus der Erfahrung herrührt, „denn eine falsche Aussage würde von der Erfahrung ab- und zurück- gewjesen“.

Es wird nun gezeigt, wie sich die Eindrücke, die im Gedächtnis des Erblindeten leben, vermischen mit dem, was ihm zustößt, mit dem, was für ihn vorstellbar ist. Vergangenheit und Gegenwart, Vorstellung und Erfahrung, Realität und Fiktion schieben sich ineinander in wirren Überblendungen, montiert nur um den einzigen Fixpunkt, jenen Tag, an dem die Erinnerung einsetzt und der erlebnismäßig verknüpft ist mit dem Tag, an dem der Knabe geblendet wurde. Dies Gerippe einer Handlung ist für das Ganze des Romans nicht entscheidend. Der Leser erfährt erst auf der vorletzten Seite etwas über die ungefähren Zusammenhänge.

Die Akzente liegen nicht so sehr auf dem „daß“, sondern auf dem „wie“, und zwar auf einem weniger modalen als interrogativen „wie“. Die Erfahrung hat den Charakter der Frage. Sie versetzt den Erblindeten in einen Fieberzustand empirischen Heißhungers (Was ich weiß, macht mich nicht heiß, nur was ich nicht weiß, macht mich heiß) des bohrenden Zweifels, ob es tatsächlich so war, oder nur hätte so geschehen können, ob es so geschehen kann oder nur vielleicht einmal so geschehen wird.

Die Verwirrung der Dimensionen erweckt beim Leser eine Art Schwindelgefühl, die Empfindung in einem luftleeren Raum zu schweben. Aus ihm tauchen gleichsam aus dem Nichts Bilder hervor, Miniaturen oder besser Diapositive von mikroskopischer Genauigkeit, hinter deren jedem einzelnen die Klappe fällt, ohne daß eines vom anderen weiß.

Das Bild wird um so schärfer, je kleiner es ist. So kann auch der ganze Mensch darin nicht mehr erfaßt werden. Handke beginnt etwa bei der Beschreibung eines Essenden mit den auseinanderweichenden Lippen, setzt fort mit dem Daumen, der die Frucht hält, setzt fort mit dem Zucken und Mahlen des Gesichts. Aber nie nehmen die Teilvorgänge Bezug aufeinander, alles ist ausschnitthaft, zerstüokt. Diese lupenhafte Schärfe, in der selbst das Kleinste wesentlich wird, erklärt vielleicht die Vorliebe des Autors für das Insekt, das ja dem Buch auch den Titel gab.

Nun ist das bloße Registrieren der Dingwelt, das dissozierende Aneinanderfügen von Bildern, die Ent- fabelung usw. in der Entwicklung des modernen Romanes nichts Neues. Ungewöhnlich höchstens ist die prometheische Geduld, mit der der Autor festgeschmiedet bleibt am starren Konzept seines Mikroskopismus, wenn auch des öfteren Langeweile an seiner Leber genagt haben wird.

Manche der Schilderungen offenbaren in ihrer protokollarischen Teilnahmslosigkeit, die die Objekte rein physikalisch entgegennimmt, eine gewisse Infantilität, eine Art infantile Grausamkeit, deren Ursache, wie die Psychologen sagen, mangelndes Einfühlungsvermögen in menschliches oder tierisches Leid ist.

Welcher Knabe hätte nicht etwa einmal in einen Ameisenhaufen gestochen oder heißes Wasser auf die

Jones und die beiden Smith kennengelernt, denen er in Haiti wiederbegegnet. Die beiden Smith, ein älteres, sehr typisches amerikanisches Ehepaar, reisen in humanitärer Mission. Sie lieben die Farbigen, sind Vegetarier und Antialkoholiker, Idealisten der reinsten Art. Ihr Zusammenstoß mit einem der Führer der Terroristen, dem Hauptmann Concasseur, einem besonders üblen Burschen, ist von überwältigender Tragikomik. — Eine andere Hauptfigur ist Martha, eine gebürtige Deutsche, Gattin eines südamerikanischen Diplomaten und Geliebte

Autors, Kennern des „Forum Stadtpark“ oder der Zeitschrift „Manuskripte“ vielleicht ein Begriff. Vor dem Erscheinen der Hornissen assoziierte der Literat den Namen Handke mit einer Publikumsbeschimpfung, die Aufsehen erregt haben soll.

Wenn auch das Werk des jungen Autors in mehr als einer Hinsicht Aufsehen erregt, so ist doch das Bild, dessen er sich bedient, uralt: das Bild des blinden Sehers, der gerade, weil sein stumpfes Auge, den in der Schärfe des Tageslichts sich wahllos formenden Bildern den Eintritt ver

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